Rede anläß­lich der Ver­lei­hung des Prei­ses

von Bernhard Kegel, gehal­ten am 16.9.2001 in Berlin im Medi­zin­his­to­ri­schen Museum

Sehr ver­ehr­tes Ehe­paar Grü­ter, sehr geehrte Damen und Her­ren,

als ich vor etwa zehn Jah­ren, an einem ein­sa­men wein­se­li­gen Abend, die ers­ten Zei­len einer skur­ri­len Geschichte über gen­tech­nisch ver­än­derte Orga­nis­men in mei­nen Com­pu­ter tippte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, daß die­ser Anfang mein Leben ver­än­dern würde. Ich hatte wirk­lich Bes­se­res zu tun. Ich war in der End­phase mei­ner Pro­mo­tion, beschäf­tigte mich mit Käfer­po­pu­la­tio­nen, Toxi­zi­tä­ten, Sta­tis­tik und schier end­lo­sen Tabel­len­un­ge­tü­men. Aber anstatt abends zu rech­nen, begann ich zu schrei­ben, ohne jede Vor­stel­lung, was am Ende dabei her­aus­kom­men würde – tat­säch­lich ist von die­sem Anfang im fer­ti­gen Roman nichts wie­der­zu­fin­den. Es sollte vor allem um Wis­sen­schaft und Wis­sen­schaft­ler gehen, in Gestalt einer span­nen­den und amü­san­ten Geschichte, denn nir­gendwo steht geschrie­ben, daß sol­che Geschich­ten nur von Eifer­suchts­dra­men, Mord und Tot­schlag und sons­ti­gen kri­mi­nel­len Machen­schaf­ten han­deln dür­fen. Mit ande­ren Wor­ten: Ich war – heute würde ich sagen glück­li­cher­weise – gren­zen­los naiv und konnte kei­nes­falls davon aus­ge­hen, daß aus die­sen ers­ten Zei­len jemals ein Buch wer­den würde, geschweige denn eins, das Jahre spä­ter des Erwin Stritt­mat­ter-Prei­ses für wür­dig erach­tet wer­den sollte. Auch als das Buch schließ­lich fer­tig war, konnte ich mir nicht vor­stel­len, daß bald drei wei­tere Bücher dazu­kom­men wür­den, daß ich in naher Zukunft als freier Schrift­stel­ler leben und heute vor Ihnen einen bedeu­ten­den Preis der Wissenschaftspublizistik in Emp­fang neh­men würde, der mich in eine Reihe mit Namen stellt, die mir ehr­fürch­tige Schauer über den Rücken jagen. Des­halb kann ich die­ses Gesche­hen – gänz­lich unwis­sen­schaft­lich – nur als eine Art unfaß­ba­res, wenn auch mit­ver­schul­de­tes Wun­der betrach­ten, für das ich mich bei der Jury und den Stif­tern vol­ler Freude und Stolz bedanke.

Es waren zwei wider­strei­tende Impulse, die mich zum Schrei­ben brach­ten: Begeis­te­rung und Fas­zi­na­tion auf der einen und Besorg­nis auf der ande­ren Seite. Bei­des wollte ich tei­len und mit­tei­len. Ver­mut­lich hat sich wis­sen­schaft­li­che For­schung und deren Rezep­tion in der Öffent­lich­keit schon immer in die­sem Span­nungs­feld abge­spielt: Zwi­schen Fas­zi­na­tion und Erschre­cken. Nur scheint die Fas­zi­na­tion in den letz­ten Jah­ren an Boden ver­lo­ren zu haben. Über­all ist von Akzep­tanz- und Image­ver­lust die Rede, von Wis­sen­schafts- und Fort­schritts­feind­lich­keit, man­che Fächer lei­den bereits unter Nach­wuchs­man­gel. Nicht nur bei gro­ßen Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen schril­len die Alarm­glo­cken. Sie ver­su­chen gegen­zu­steu­ern, mit Veranstaltungen wie dem Ber­li­ner Wis­sen­schafts­som­mer oder indem man Ein­zel­kämp­fer wie mich durch eine Aus­zeich­nung wie dem Grü­ter-Preis ermun­tert und ermög­licht wei­ter­zu­ma­chen.

Es wäre ver­mes­sen, wenn ich aus­ge­rech­net Ihnen, die Sie sich im Rah­men von PUSH ver­dienst­vol­l­er­weise mit die­sen Fra­gen beschäf­ti­gen, erzäh­len wollte, wie viel­fäl­tig die Ursa­chen die­ser Ent­wick­lung sind. Sie sind auf ver­schie­dens­ten Ebe­nen zu suchen: In den Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten und in einer Gesell­schaft, die sich zu immer grö­ße­ren Tei­len einer kurz­at­mi­gen Spaß­kul­tur hin­gibt. Gestat­ten Sie mir trotz­dem, auf einige Aspekte hin­zu­wei­sen, die mir in der Dis­kus­sion zu kurz zu kom­men schei­nen.

Zum Bei­spiel, daß ein Gut­teil des Pro­blems gar kein Pro­blem ist. Der Phi­lo­soph Jür­gen Mit­tel­straß betonte kürz­lich zu Recht, es gehöre eher zu den Stär­ken einer ratio­na­len Gesell­schaft als zu ihren Schwä­chen, wenn wis­sen­schaft­li­che Errun­gen­schaf­ten und ihre Anwen­dung heute nicht mehr unkri­tisch akzep­tiert wür­den. Auch Wis­sen­schaft insze­niert sich mitt­ler­weile, mehr oder weni­ger talen­tiert, als Medi­en­er­eig­nis. Der Preis dafür sind laut­starke und hit­zige Debat­ten, die man füh­ren und aus­hal­ten muß und kei­nes­wegs mit gene­rel­ler Wis­sen­schafts­feind­lich­keit ver­wech­seln sollte.

Jeder Kul­tur­schaf­fende muß sich der öffent­li­chen Kri­tik stel­len, und es sind in den sel­tens­ten Fäl­len Schrift­stel­ler, die da über Schrift­stel­ler schrei­ben. Man muß auch nicht die gesamte euro­päi­sche Film­ge­schichte ver­in­ner­licht haben, um öffent­lich seine Mei­nung über einen Film zu äußern. Es sind viele Stim­men, die sich zu Wort mel­den, kom­pe­tente und inkom­pe­tente. Das ist nicht immer leicht, gehört aber zum Geschäft. Wis­sen­schaft­ler tun sich schwer damit. Sie nei­gen immer noch dazu, nur ihres­glei­chen ernst zu neh­men, waren es zu lange gewohnt, ihre Belange und Vor­ha­ben in den eige­nen Rei­hen zu dis­ku­tie­ren. Mit­tel­straß bezwei­felt denn auch Pro­gno­sen, die ein Water­loo der Wis­sen­schaft her­an­na­hen sehen. Er sieht in den Kla­gen eher ein Zei­chen von Wei­ner­lich­keit, die schlicht der Uner­fah­ren­heit der Wis­sen­schaft­ler im Umgang mit den Mies­ma­cher­qua­li­tä­ten der Medien geschul­det ist.

Man macht es sich viel zu ein­fach, wenn man das, was wir momen­tan erle­ben, nur als eine Ver­mitt­lungs- bzw. Ver­ständ­nis­krise ansieht. Natür­lich ist ein gewis­ses Maß an Inter­esse auf der einen und die Bereit­schaft und Fähig­keit sich mit­zu­tei­len auf der ande­ren Seite die Min­dest­vor­aus­set­zung. Zwei­fel­los man­gelt es an bei­dem. Und, oh ja, wenn viele Men­schen die Frage, ob nor­male Toma­ten Gene besä­ßen, ver­nei­nen, offen­bar weil die ande­ren, die mani­pu­lier­ten, expli­zit Gen-Toma­ten genannt wer­den, wenn in den Buch­lä­den direkt neben den Wer­ken von Gould, Haw­king und Rid­ley ohne jede Dif­fe­ren­zie­rung die von Eso­te­ri­kern und Ufo-Theo­re­ti­ker ste­hen, den soge­nann­ten Grenz­wis­sen­schaft­lern, dann gibt es tat­säch­lich erheb­li­chen Auf­klä­rungs­be­darf. Nur steht gleich­zei­tig eine impo­sante Pha­lanx an her­vor­ra­gen­den Sach­bü­chern, CD-Roms, Wis­sen­schafts­sei­ten und – maga­zi­nen bereit, um vor­han­dene Wis­sens­lü­cken zu fül­len. Wir leben im Infor­ma­ti­ons­zeit­al­ter. Manch­mal scheint mir, hier wird ein Man­gel beklagt, der nicht exis­tiert. Ob man Men­schen, die heil­froh waren, natur­wis­sen­schaft­li­che Fächer schon in der Schule aus ihrem Leben hin­aus­wäh­len zu kön­nen, jemals für die Anlie­gen der For­scher begeis­tern oder auch nur inter­es­sie­ren kann, ist frag­lich.

Wenn die Wis­sen­schaft glaubt, die­ses ver­meint­li­che Infor­ma­ti­ons­de­fi­zit dadurch bekämp­fen zu müs­sen, daß sie sich zum Teil der moder­nen Event-Kul­tur macht, wenn sie meint, nur lau­ter als andere schreien zu müs­sen, um sich Gehör zu ver­schaf­fen, wenn sie sich kurz­fris­ti­gen Moden und Trends unter­wirft und mit den­sel­ben Mit­teln um die knap­pen Güter Zeit und Auf­merk­sam­keit kon­kur­riert wie Sport und andere Berei­che des Enter­tain­ments, dann begibt sie sich auf schlüpf­ri­ges Ter­rain, das ihr eigent­lich wesens­fremd ist. Alle, die Sie hier sit­zen, wis­sen, daß wis­sen­schaft­li­che Arbeit anders aus­sieht und ein hip­pes Spaß-Ver­spre­chen kaum ein­lö­sen kann. Eine Kar­rie­re­ga­ran­tie, hohes Anse­hen und die Aus­sicht auf ein plan­ba­res Leben bie­tet ein wis­sen­schaft­li­ches Stu­dium schon lange nicht mehr. Natür­lich heißt all das nicht, daß Wis­sen­schaft nicht auf ihre Weise auch Spaß machen kann und das sollte bei ihrer Ver­mitt­lung gerade an Kin­der und Jugend­li­che auch trans­por­tiert wer­den. Sie müs­sen der­art an wis­sen­schaft­li­che Denk­wei­sen her­an­ge­führt wer­den, daß sie spä­ter sou­ve­rän ent­schei­den kön­nen und nicht mit Abwehr reagie­ren müs­sen.

Es geht um eine Beschleu­ni­gungs­krise und um Über­for­de­run­gen auf bei­den Sei­ten, aber, und die­ser Aspekt scheint mit mit­un­ter ver­ges­sen zu wer­den, es geht auch um kon­krete Inhalte. Wenn man den Men­schen bis ins Detail, ver­ständ­lich und amü­sant erläu­tert, wie repro­duk­ti­ves Klo­nen oder die Ver­pflan­zung von mensch­li­chen Köp­fen funk­tio­nie­ren könnte, heißt das noch lange nicht, daß sie es auto­ma­tisch gut­hei­ßen wer­den. Die Men­schen stel­len berech­tigte Fra­gen und Wis­sen­schaft­ler erwe­cken allzu oft den Ein­druck, deren Beant­wor­tung sei ihnen läs­tig und halte nur von der Arbeit ab.

Die Atom­bom­ben des zwei­ten Welt­kriegs und die Gift­wol­ken von Seveso und Tcher­no­byl sind in den Köp­fen noch immer prä­sent. Dazu kom­men heute ganz neue Belas­tun­gen: Fäl­schungs­skan­dale in Ein­rich­tun­gen, von denen man nai­ver­weise glaubte, sie seien aus­schließ­lich der Wahr­heit ver­pflich­tet, immer wie­der Pro­phe­zei­un­gen von wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen und wis­sen­schaft­lich-medi­zi­ni­schen Revo­lu­tio­nen, ein Begriff, der gera­dezu infla­tio­när gebraucht wird, tief­grei­fende Ver­än­de­run­gen jeden­falls, von denen nie­mand weiß, wann und ob und in wel­cher Form sie ein­mal Wirk­lich­keit wer­den, und vor allem eine immer undurch­schau­ba­rer wer­dende Ver­flech­tung von Wis­sen­schaft und Wirt­schaft, zu etwas, das Enzens­ber­ger kürz­lich im Spie­gel als »wis­sen­schaft­lich-indus­tri­el­len« Kom­plex bezeich­net hat. Wie soll selbst der inter­es­sierte Laie noch erken­nen, wer wann in wes­sen Inter­esse redet? Was wird eigent­lich beklagt, ein zukünf­ti­ger Man­gel an Fach­kräf­ten, oder eine schlei­chende Dis­kre­di­tie­rung der wich­tigs­ten und effek­tivs­ten Methode des Erkennt­nis­ge­winns, die uns zur Ver­fü­gung steht. Nur letz­te­res wäre im eigent­li­chen Wort­sinn wis­sen­schafts­feind­lich.

In mei­nen Veranstaltungen erlebe ich immer wie­der, daß sich bei vie­len Men­schen das Bild der for­schen­den Wis­sen­schaft­ler dem der Poli­ti­ker annä­hert. Zur Poli­ti­ker- gesellt sich Wis­sen­schaft­ler­ver­dros­sen­heit? Man ver­steht sie nicht, ist eine häu­fig zu hörende Kri­tik. Sie machen sowieso, was sie wol­len, und man kann sie noch nicht mal abwäh­len.

Für den beob­ach­ten­den Laien ist die Situa­tion ver­wir­rend. Das Wort »unse­riös« ist zur Keule im öffent­li­chen Streit der Wis­sen­schaft­ler unter­ein­an­der gewor­den, und ehe­mals seriöse Wis­sen­schaft­ler kön­nen unse­riös wer­den und umge­kehrt. James Wat­son etwa, von dem man­che in den Kin­der­ta­gen des von ihm mit initi­ier­ten Human­ge­nom­pro­jekts glaub­ten, er ließe dort seine eigene DNS sequen­zie­ren, gilt vie­len Kol­le­gen heute trotz sei­nes Nobel­prei­ses als unse­riös, und Linus Pau­ling, der spä­ter gleich zwei über­aus seriöse Nobel­preise bekam, schlug, nach­dem er als ers­ter die gene­ti­sche Ursa­chen einer Erkran­kung, der Sichel­zel­len­an­ämie, ana­ly­siert hatte, vor, Trä­ger der betref­fen­den Gene soll­ten ein Zei­chen auf ihrer Stirn tra­gen, damit man sie erken­nen könne, was zwei­fel­los nicht son­der­lich seriös war.

Ob es den vie­len Tau­send Wis­sen­schaft­lern, die in ihren Insti­tu­tio­nen ver­ant­wor­tungs­voll ihrer Arbeit nach­ge­hen, gefällt oder nicht, es gibt sie und sie ste­hen im Ram­pen­licht: die Ver­rück­ten, die Bösen, die Beses­se­nen, die Grenz­über­schrei­ter wie Antinori, Ben-Abra­ham und Zavos, wie Richard Seed, der wäh­rend des Klon­spek­ta­kels in Rom das Mikro­phon an sich riß und brüllte: »Ich werde meine Frau klo­nen und meine ganze Fami­lie.« Wie Jac­ques Cohen, dem wir nun die Exis­tenz von min­des­tens zwei süßen gene­tisch ver­än­der­ten Babys ver­dan­ken. Oder James Grifo, der als einer der best­ver­die­nen­den Medi­zi­ner der USA seine Kern­trans­fer­ver­su­che nur ein­stellte, weil ihm die öffent­li­che Empö­rung auf die Ner­ven ging, nicht weil man ihn dazu hätte zwin­gen kön­nen. »Ich wäre Gefahr gelau­fen, daß irgend­ein Regie­rungs­idiot mir spä­ter die Kariere kaputt­macht«, schimpfte er.

Es gibt die berech­tigte Befürch­tung, daß Men­schen, die ein­fach han­deln, ohne sich um Debat­ten und Ver­bote zu küm­mern, Fak­ten schaf­fen könn­ten, Fak­ten, die irgend­wann andern­orts viel­leicht zu Sach­zwän­gen und Stand­ort­nach­tei­len wer­den.

Sicher war­ten Sie schon lange auf die Fest­stel­lung, daß Wis­sen­schaft kein mono­li­thi­scher Block ist. Natür­lich nicht, sie ist so hete­ro­gen wie die Welt. Es sind nur einige wenige Räume die­ses rie­si­gen Gebäu­des, die bei den Men­schen Angst und Abwehr­re­flexe aus­lö­sen, aber die­ser kleine Teil und einige der in ihnen arbei­ten­den For­scher rich­ten uner­meß­li­chen, kaum wie­der gut zu machen­den Scha­den an und sie wer­den es wei­ter tun, wenn es nicht gelingt, Ihnen einen Rie­gel vor­zu­schie­ben. Ihre Arro­ganz, ihre Unbe­lehr­bar­keit und offen­sicht­li­che Unkon­trol­lier­bar­keit dro­hen das ganze Gebäude in Ver­ruf zu brin­gen, und es tut mir in der Seele weh, daß diese Leute heute nicht zuletzt aus der Bio­lo­gie und ihren Nach­bar­dis­zi­pli­nen kom­men, zu denen ich hier auch die Medi­zin zähle.

Ich muß geste­hen, daß ich mich einer ande­ren Bio­lo­gie ver­pflich­tet fühle, mei­net­we­gen einer alt­mo­di­schen, Dis­zi­pli­nen, wie sie zum Bei­spiel im Aus­schrei­bungs­text des Grü­ter-Prei­ses auf­ge­zählt wer­den: Evo­lu­ti­ons­for­schung, Bota­nik, Mee­res­bio­lo­gie und Palä­on­to­lo­gie. Klas­si­sche Fächer, deren Wur­zeln weit zurück­rei­chen und die heut­zu­tage sicher nie­man­dem Anlaß zu Ver­dros­sen­heit lie­fern, es sei denn, er oder sie hat sich einem die­ser Fel­der ver­schrie­ben und ist auf der Suche nach einem Job. Für mich dient For­schung auf die­sen und ver­wand­ten Gebie­ten vor allem einem Ziel: Die Zusam­men­hänge und Gesetze der Welt, in der wir leben, zu erken­nen und zu ver­ste­hen und dann nach ihnen zu han­deln, um uns, klü­ger gewor­den, rei­bungs­lo­ser und stö­rungs­freier in ihr Gefüge ein­zu­ord­nen. Alle Pro­bleme der heu­ti­gen Zeit sind nicht ent­stan­den, weil wir ver­stan­den, aber zu wenig ver­än­dert haben, son­dern weil wir viel zuviel ver­än­dert haben, ohne wirk­lich zu ver­ste­hen. Wäh­rend der Arbeit an mei­nem Buch über Inva­si­ons­bio­lo­gie, stieß ich immer wie­der auf erschre­ckende Wis­sens­lü­cken, ja Igno­ranz. Man baut einen Suez­ka­nal, aber die Fauna des Roten Mee­res und der öst­li­chen Mit­tel­mee­res war nahezu unbe­kannt. Nach Neu­see­land wur­den Tau­sende von Tier- und Pflan­zen­ar­ten ein­ge­führt, aber erst 1955, zwei­hun­dert Jahre nach dem Ein­tref­fen der Euro­päer, erschien ein ers­tes schma­les Bänd­chen über die ein­hei­mi­sche Fisch­fauna.

Ver­zei­hen Sie mir bitte, den emo­tio­na­len Ton: Aber eine Bio­lo­gie, oder sagen wir Lebens­wis­sen­schaft, die nicht mehr die Orga­nis­men in den Mit­tel­punkt stellt, son­dern nur noch das Wir­ken ihrer Gene im Blick hat und sich laut­stark als Welt- und Natur­ver­bes­se­rer auf­spielt, kann mir wie vie­len ande­ren Men­schen gestoh­len blei­ben, solange sie sich nicht glaub­wür­dig und mit min­des­tens der­sel­ben Ener­gie, den­sel­ben finan­zi­el­len, tech­ni­schen und mensch­li­chen Res­sour­cen für Erfor­schung und Erhalt die­ses uner­meß­lich wert­vol­len Schat­zes ein­setzt, des­sen Teil wir sind und den wir Natur nen­nen.

Des­halb denke ich manch­mal – bei aller Freude dar­über, daß viele Wis­sen­schaft­ler die Zei­chen der Zeit erkannt haben und auf die Men­schen zuge­hen -, glit­zernde Insze­nie­run­gen zukünf­ti­ger Ver­hei­ßun­gen wären glaub­wür­di­ger, wenn nicht gleich­zei­tig bedeu­tende Tem­pel mei­ner Wis­sen­schaft wie das nur wenige Meter ent­fernte Museum für Natur­kunde inmit­ten einer mit Mil­li­ar­den­auf­wand auf Hoch­glanz polier­ten Umge­bung halb ver­ges­sen vor sich hin rot­ten wür­den.

Das wäre ein Ort, um Lebens­wis­sen­schaf­ten zu ver­mit­teln, eine der wich­tigs­ten Insti­tu­tio­nen ihrer Art in der Welt. Man­che mögen den ver­staub­ten Charme des 19. Jahr­hun­derts, den das Gebäude ver­strömt. Ich nicht. Ich finde seine Bot­schaft fatal. Sie sagt: All das war ges­tern, es ist über­kom­mene Ver­gan­gen­heit, wir sind längst dar­über hin­aus, sind dabei eine neue Welt zu bauen. Viel­leicht wäre es für den Zustand gro­ßer Teile mei­ner Wis­sen­schaft und ihres For­schungs­ge­gen­stan­des sehr viel sym­pto­ma­ti­scher, wenn ihre Selbst­dar­stel­lung im Schum­mer­licht und unter den von Bom­ben­lö­chern und Was­ser­fle­cken ver­zier­ten Decken des Natur­kun­de­mu­se­ums statt­fin­den würde, anstatt unter den fun­kel­na­hen­neuen Dächern des Pots­da­mer Plat­zes. Die Bio­lo­gie darf nicht so tun, als sei sie erst mit der Ent­de­ckung der DNS erfun­den wor­den. Sie ist viel grö­ßer. Wenn sie sich daran erin­nerte, fiele es ihr viel­leicht auch leich­ter, neue Freunde zu gewin­nen.

Ich danke Ihnen für Ihre Auf­merk­sam­keit.

Lau­da­tio anläß­lich der Ver­lei­hung des Prei­ses

von Mat­thias Glaub­recht, gehal­ten am 16.9.2001 in Berlin im Medi­zin­his­to­ri­schen Museum

Meine sehr geehr­ten Damen & Her­ren,
Lie­ber Preis­trä­ger,

auch wenn uns die schreck­li­chen Ereig­nisse der ver­gan­ge­nen Woche auf bru­tale Art gezwun­gen haben, uns auf die wirk­lich wich­ti­gen Dinge des Lebens zu besin­nen, auch dann wer­den Sie mir zustim­men, dass Wis­sen­schaft ein wich­ti­ger Fak­tor in unse­rem Leben dar­stellt, dass Wis­sen­schaft eine Kon­stante unse­rer Zivi­li­sa­tion und Gesell­schaft ist.

Aller­dings: Bei der Ver­mitt­lung die­ser Wis­sen­schaft – bei der Ver­ständ­lich­ma­chung von For­schung, ihren Mög­lich­kei­ten und Gren­zen – trei­ben wir mit­un­ter Unver­ständ­li­ches.

Ich will hier gar nicht dar­auf her­um­rei­ten, dass das PUSH-Pro­gramm oder der Com­mu­ni­ca­tor-Preis – die ja den Dia­log der Wis­sen­schaft mit der Öffent­lich­keit för­dern sol­len – dass sich diese Pro­gramme und Preise bezeich­nen­der­weise eng­li­sche Namen gege­ben haben. Ich möchte hier viel­mehr der weit wich­ti­ge­ren Frage nach­ge­hen, wie denn Wis­sen­schaft­ler ihre For­schun­gen ver­mit­teln. Auch die Hoch­de­kor­tier­ten unter ihnen tun dies mit­un­ter etwa so – Ich zitiere:

»Wenn die strings neben ihren nor­mal­zah­li­gen Dimen­sio­nen der Zeit und des Raums zusätz­lich noch Grass­mann-Dimen­sio­nen haben, ent­spre­chen die Kräu­se­lun­gen Boso­nen und Fer­mio­nen«.

Geschrie­ben hat das der Phy­si­ker und viel­ge­lobte Autor Ste­phen Haw­king in sei­nem jüngs­ten Sach­buch Das Uni­ver­sum in der Nuß­schale. Bekannt gewor­den ist Haw­king mit sei­nem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit«, das welt­weit 10 Mil­lio­nen mal ver­kauft wurde und damit der größte Sach­bu­ch­erfolg aller Zei­ten ist. Aller­dings dür­fen wir getrost davon aus­ge­hen, dass die wenigs­ten Käu­fer die­ses Buch wirk­lich gele­sen oder gar ver­stan­den haben, so ein Kom­men­tar von Ulrich Schna­bel jüngst in der ZEIT. Spöt­ter behaup­ten des­halb, es sei das »meist­ver­kaufte unge­le­sene Buch seit der Bibel«.

Ganz ähn­lich dürfte es sich mit dem 1985 erschie­ne­nen Band von Dou­glas Hof­stad­ter ver­hal­ten: das gefloch­tene Band um Gödel, Escher, Bach – auch dies ein Kult­buch fürs Bücher­re­gal, das übri­gens meist nicht weit ent­fernt steht von Umberto Ecos »Fou­cault­schem Pen­del« oder von der »Insel des vori­gen Tages« – bei­des Barock­ro­mane, bei deren Lek­türe man den Brock­haus immer in Reich­weite haben sollte.

Einen ande­ren Weg, um der Öffent­lich­keit Wis­sen­schaft nahe zu brin­gen, geht unser Preis­trä­ger Bernhard Kegel. Seine Bücher ver­kau­fen sich – bis­lang jeden­falls – noch nicht zehn­mil­lio­nen­fach; dafür aber wer­den sie offen­bar gern gele­sen – und ich bin ganz sicher: sie wer­den auch ver­stan­den.

Bernhard Kegel geht inso­fern einen unge­wöhn­li­chen Weg, weil er wis­sen­schaft­li­che Romane schreibt, Sci­ence-fic­tion – wenn Sie so wol­len. Und das ist bei der Ver­mitt­lung von Wis­sen­schaft noch immer unge­wöhn­lich – zumin­dest in Deutsch­land. Sie wis­sen ja: Es ist dies jenes Land, wo man als Wis­sen­schaft­ler lei­der erst mit Habi­li­ta­tion und Pro­fes­so­ren­ti­tel ernst genom­men wird – und oft schon gar nicht, wenn man sich in die angeb­li­chen popu­lär­wis­sen­schaft­li­chen Nie­de­run­gen begibt.

So ganz geheuer war offen­bar auch Bernhard Kegel die­ser Umstand nicht. Und so hat er sich ursprüng­lich um den Grü­ter-Preis für Wissenschaftspublizistik nur mit sei­nem Sach­buch bewor­ben; einem Sach­buch mit dem schö­nen Titel »Die Ameise als Tramp«; ich komme gleich dar­auf zurück.

Unge­wöhn­lich – und nicht nur des­halb zugleich auch preis­wür­dig – fan­den wir dage­gen Bernhard Kegels Ver­such, Wis­sen­schaft auch in Roman­form ver­packt zu ser­vie­ren. Er hat dies 1993 erst­mals in sei­ner Gen­tech­nik­sa­tire »Wen­zels Pilz« getan, in der gen­tech­nisch ver­än­derte Lebe­we­sen erst frei­ge­setzt wer­den – und sich dann grö­ßere Frei­hei­ten im Öko­sys­tem her­aus­neh­men als ihnen zuge­dacht waren. Bereits recht früh hat Bernhard Kegel in die­sem Roman viele Aspekte des­sen vor­weg­ge­nom­men, wie sich in unse­rer Gesell­schaft in Zukunft unser Ver­hält­nis, unsere Ein­stel­lung zum Leben ver­än­dern könnte, wenn Gen­tech­nik all­täg­lich wird und unsere Gene zur nur mehr mani­pu­lier­ba­ren Infor­ma­tion degra­diert wer­den.

Nach die­sem Blick in die Zukunft folgte dann 1996 mit dem Roman »Das Ölschiefer­skelett« die Rekon­struk­tion der Ver­gan­gen­heit – eine skur­rile Zeit­reise und Palä­on­to­lo­gie-Kol­por­tage, in der Kegel eben­falls erzäh­le­risch Wis­sen­schaft ver­mit­telt – und in der er dem Leser zugleich einen inti­men Blick in den Wis­sen­schafts­be­trieb ermög­licht. Weni­ger die Phan­tas­tik der Schil­de­rung und die leicht durch­schau­bare Fik­tion – immer­hin taucht da ein 50 Mil­lio­nen Jahre altes mensch­li­ches Ske­lett kom­plett mit Arm­band­uhr und Zahn­kro­nen auf -, als viel­mehr die Prä­zi­sion klei­ner Beob­ach­tun­gen aus den All­tag der Wis­sen­schaft macht die­ses Buch lesens­wert. Und es läßt ein­mal nicht Poli­ti­ker, Poli­zis­ten oder Bör­sen­mak­ler zu Roman­fi­gu­ren wer­den, son­dern hier ist das Den­ken und Han­deln von For­schern das Thema. Kegel macht damit deut­lich, dass Wis­sen­schaft sehr wohl span­nend und leben­dig sein kann – und erleb­bar auch für Nicht-Wis­sen­schaft­ler.

Ich habe des­halb kei­nen Zwei­fel, dass auch sein neu­es­ter, soeben erschie­ne­ner Roman mit dem Titel »Sexy sons« wie­der ein Lese­ver­gnü­gen sein wird – ein Buch, das ganz neben­bei einen Blick hin­ter die Kulis­sen der Wis­sen­schaft erlaubt.

Nun, wer ist die­ser Bernhard Kegel? – Woher ver­fügt er über so inti­men Ein­blick in den Wis­sen­schafts­be­trieb. Ich darf Ihnen den Autor kurz vor­stel­len: Bernhard Kegel, Jahr­gang 1953, hat in Berlin an der Freien Uni­ver­si­tät Bio­lo­gie stu­diert und wurde von der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät, an der er auch einige Jahre als wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter tätig war, 1991 pro­mo­viert – und zwar mit einer agrar­öko­lo­gi­schen Arbeit über »Frei­land- und Labor­un­ter­su­chun­gen zur Wir­kung von Her­bi­zi­den auf Laufkäfer«.Er ist also eigent­lich ein Käfer­spe­zia­list und Insek­ten­for­scher. Er war anschlie­ßend im Auf­trag der Senats­ver­wal­tung für Stadt­ent­wick­lung und Umwelt­schutz in ver­schie­de­nen Pro­jek­ten zur Bestands­auf­nahme in Berlin hei­mi­scher Tiere beschäf­tigt, bevor er 1996 den muti­gen Schritt wagte, sich fortan als freier Schrift­stel­ler und Publi­zist zu betä­ti­gen und sich ganz dem Schrei­ben zu wid­men.

Natür­lich ist des­halb auch in ers­ter Linie die Unter­hal­tung Kegels Ziel. Aber seine bei­den Zeit­rei­sen in die Zukunft und die Ver­gan­gen­heit sind zugleich eine Besich­ti­gungs­tour der wis­sen­schaft­li­chen Gegen­wart. Sie befin­den sich auf dem aktu­el­len Stand der Wis­sen­schaft, nur dass sich eben die fun­dierte Sach­kennt­nis mit erzäh­le­ri­schen Qua­li­tä­ten ver­bin­det.

Diese fun­dierte Sach­kennt­nis geht soweit, dass Bernhard Kegel mit der Ameise als Tramp 1999 ein Sach­buch vor­ge­legt hat, das erst­mals – und dies nicht nur im deutsch­spra­chi­gen Raum – in Buch­form die welt­wei­ten Aus­wir­kun­gen bio­lo­gi­scher Inva­sio­nen unter­sucht und an einer Fülle von Bei­spie­len dar­stellt. Bis dahin war es vie­len Bio­lo­gen und auch Nicht-Bio­lo­gen ver­bor­gen geblie­ben, dass die Mensch­heit der­zeit ein Expe­ri­ment mit glo­ba­lem Aus­maß durch­führt. Nur durch lang­wie­rige plat­ten­tek­to­ni­sche Bewe­gun­gen kam es bis­lang in der Geschichte der Erde zu einem ver­gleich­ba­ren Aus­tausch von Tie­ren und Pflan­zen, der Fauna und Flora von gan­zen Kon­ti­nen­ten. Die­ser Aus­tausch über in geo­lo­gi­scher Zeit ent­stan­dene Land­ver­bin­dun­gen führte mehr­fach zum Erlö­schen vie­ler Arten und zum Ver­schwin­den gan­zer Evo­lu­ti­ons­li­nien.

Heute führt der Mensch diese Wan­der­be­we­gung rund um den Glo­bus an. Im Zuge sei­ner Glo­ba­li­sie­rung sorgt er auf viel­fäl­tige Weise für das Ein­schlep­pen ganz frem­der Tier- und Pflan­zen­ar­ten in Regio­nen, wo sie nichts zu suchen haben – aber eben unglück­li­cher­weise oft umso mehr fin­den – und umso bes­ser zurecht kom­men. Der Mensch wie­der­holt damit ein Expe­ri­ment, das in die­sem Aus­maß zuletzt wäh­rend der Krei­de­zeit – vor dem Aus­ster­ben der Dino­sau­rier – statt­fand.

Bernhard Kegel beschreibt in sei­nem Buch Pha­rao­amei­sen, die sich in Com­pu­tern häus­lich ein­rich­ten, Pilze und Papa­geien, die sich breit­ma­chen, Schlick­krebse und Zebra­mu­scheln, die sich mas­sen­haft aus­brei­ten und Mil­lio­nen­schä­den ver­ur­sa­chen. Dank des The­mas, aber auch auf­grund der ange­mes­se­nen, nüch­tern-abwä­gen­den Spra­che und Dar­stel­lung des Autors liest sich selbst die­ses Sach­buch eigent­lich wie ein Krimi. Auf anschau­li­che Weise behan­delt es ver­gan­gene Inva­si­ons­wel­len, gegen­wär­tige Ver­drän­gungs­kämpfe und wagt einen Aus­blick auf zukünf­tige bio­lo­gi­sche Bedro­hun­gen.

Es gibt also eine Viel­zahl von Argu­men­ten, Bernhard Kegel mit dem dies­jäh­ri­gen Inge und Wer­ner Grü­ter-Preis für Wis­sen­schaft­pu­bli­zis­tik aus­zu­zeich­nen. Ich bedaure, dass ich hier auf­grund der gebo­te­nen Kürze der Lau­da­tio diese Argu­mente nur umrei­ßen kann. Ich kann Sie aber auf die Lek­türe sei­ner Werke ver­wei­sen, und Ihnen wün­schen, dass sie auch Ihnen ein gro­ßes Lese­ver­gnü­gen berei­ten mögen.

Seine Bücher – seien es nun das Sach­buch oder die Romane – sind ein Plä­doyer für die For­schung, für die Wis­sen­schaft als wich­ti­gen Teil unse­rer Kul­tur und Gesell­schaft. Der Preis gebührt Bernhard Kegel, weil er sich – mehr als so man­cher Wis­sen­schaft­ler mit Habi­li­ta­tion und Pro­fes­sur – darum bemüht hat, Wis­sen­schaft einer mög­lichst brei­ten Öffent­lich­keit ver­ständ­lich zu machen.

Sein Ver­such, dies mit erzäh­le­ri­schen Mit­teln zu tun, bedeu­tet ein Wag­nis und eine Grad­wan­de­rung – eine Grad­wan­de­rung, bei der er indes mit siche­rem Schritt die Balance gehal­ten hat zwi­schen dem Anspruch an Ver­ständ­lich­keit und Unter­hal­tun­gen auf der einen Seite und dem Anspruch an sach­li­che Rich­tig­keit und Wis­sen­schaft­lich­keit auf der ande­ren Seite.