Rede anläßlich der Verleihung des Preises
von Bernhard Kegel, gehalten am 16.9.2001 in Berlin im Medizinhistorischen Museum
Sehr verehrtes Ehepaar Grüter, sehr geehrte Damen und Herren,
als ich vor etwa zehn Jahren, an einem einsamen weinseligen Abend, die ersten Zeilen einer skurrilen Geschichte über gentechnisch veränderte Organismen in meinen Computer tippte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, daß dieser Anfang mein Leben verändern würde. Ich hatte wirklich Besseres zu tun. Ich war in der Endphase meiner Promotion, beschäftigte mich mit Käferpopulationen, Toxizitäten, Statistik und schier endlosen Tabellenungetümen. Aber anstatt abends zu rechnen, begann ich zu schreiben, ohne jede Vorstellung, was am Ende dabei herauskommen würde – tatsächlich ist von diesem Anfang im fertigen Roman nichts wiederzufinden. Es sollte vor allem um Wissenschaft und Wissenschaftler gehen, in Gestalt einer spannenden und amüsanten Geschichte, denn nirgendwo steht geschrieben, daß solche Geschichten nur von Eifersuchtsdramen, Mord und Totschlag und sonstigen kriminellen Machenschaften handeln dürfen. Mit anderen Worten: Ich war – heute würde ich sagen glücklicherweise – grenzenlos naiv und konnte keinesfalls davon ausgehen, daß aus diesen ersten Zeilen jemals ein Buch werden würde, geschweige denn eins, das Jahre später des Erwin Strittmatter-Preises für würdig erachtet werden sollte. Auch als das Buch schließlich fertig war, konnte ich mir nicht vorstellen, daß bald drei weitere Bücher dazukommen würden, daß ich in naher Zukunft als freier Schriftsteller leben und heute vor Ihnen einen bedeutenden Preis der Wissenschaftspublizistik in Empfang nehmen würde, der mich in eine Reihe mit Namen stellt, die mir ehrfürchtige Schauer über den Rücken jagen. Deshalb kann ich dieses Geschehen – gänzlich unwissenschaftlich – nur als eine Art unfaßbares, wenn auch mitverschuldetes Wunder betrachten, für das ich mich bei der Jury und den Stiftern voller Freude und Stolz bedanke.
Es waren zwei widerstreitende Impulse, die mich zum Schreiben brachten: Begeisterung und Faszination auf der einen und Besorgnis auf der anderen Seite. Beides wollte ich teilen und mitteilen. Vermutlich hat sich wissenschaftliche Forschung und deren Rezeption in der Öffentlichkeit schon immer in diesem Spannungsfeld abgespielt: Zwischen Faszination und Erschrecken. Nur scheint die Faszination in den letzten Jahren an Boden verloren zu haben. Überall ist von Akzeptanz- und Imageverlust die Rede, von Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit, manche Fächer leiden bereits unter Nachwuchsmangel. Nicht nur bei großen Wissenschaftsorganisationen schrillen die Alarmglocken. Sie versuchen gegenzusteuern, mit Veranstaltungen wie dem Berliner Wissenschaftssommer oder indem man Einzelkämpfer wie mich durch eine Auszeichnung wie dem Grüter-Preis ermuntert und ermöglicht weiterzumachen.
Es wäre vermessen, wenn ich ausgerechnet Ihnen, die Sie sich im Rahmen von PUSH verdienstvollerweise mit diesen Fragen beschäftigen, erzählen wollte, wie vielfältig die Ursachen dieser Entwicklung sind. Sie sind auf verschiedensten Ebenen zu suchen: In den Schulen und Universitäten und in einer Gesellschaft, die sich zu immer größeren Teilen einer kurzatmigen Spaßkultur hingibt. Gestatten Sie mir trotzdem, auf einige Aspekte hinzuweisen, die mir in der Diskussion zu kurz zu kommen scheinen.
Zum Beispiel, daß ein Gutteil des Problems gar kein Problem ist. Der Philosoph Jürgen Mittelstraß betonte kürzlich zu Recht, es gehöre eher zu den Stärken einer rationalen Gesellschaft als zu ihren Schwächen, wenn wissenschaftliche Errungenschaften und ihre Anwendung heute nicht mehr unkritisch akzeptiert würden. Auch Wissenschaft inszeniert sich mittlerweile, mehr oder weniger talentiert, als Medienereignis. Der Preis dafür sind lautstarke und hitzige Debatten, die man führen und aushalten muß und keineswegs mit genereller Wissenschaftsfeindlichkeit verwechseln sollte.
Jeder Kulturschaffende muß sich der öffentlichen Kritik stellen, und es sind in den seltensten Fällen Schriftsteller, die da über Schriftsteller schreiben. Man muß auch nicht die gesamte europäische Filmgeschichte verinnerlicht haben, um öffentlich seine Meinung über einen Film zu äußern. Es sind viele Stimmen, die sich zu Wort melden, kompetente und inkompetente. Das ist nicht immer leicht, gehört aber zum Geschäft. Wissenschaftler tun sich schwer damit. Sie neigen immer noch dazu, nur ihresgleichen ernst zu nehmen, waren es zu lange gewohnt, ihre Belange und Vorhaben in den eigenen Reihen zu diskutieren. Mittelstraß bezweifelt denn auch Prognosen, die ein Waterloo der Wissenschaft herannahen sehen. Er sieht in den Klagen eher ein Zeichen von Weinerlichkeit, die schlicht der Unerfahrenheit der Wissenschaftler im Umgang mit den Miesmacherqualitäten der Medien geschuldet ist.
Man macht es sich viel zu einfach, wenn man das, was wir momentan erleben, nur als eine Vermittlungs- bzw. Verständniskrise ansieht. Natürlich ist ein gewisses Maß an Interesse auf der einen und die Bereitschaft und Fähigkeit sich mitzuteilen auf der anderen Seite die Mindestvoraussetzung. Zweifellos mangelt es an beidem. Und, oh ja, wenn viele Menschen die Frage, ob normale Tomaten Gene besäßen, verneinen, offenbar weil die anderen, die manipulierten, explizit Gen-Tomaten genannt werden, wenn in den Buchläden direkt neben den Werken von Gould, Hawking und Ridley ohne jede Differenzierung die von Esoterikern und Ufo-Theoretiker stehen, den sogenannten Grenzwissenschaftlern, dann gibt es tatsächlich erheblichen Aufklärungsbedarf. Nur steht gleichzeitig eine imposante Phalanx an hervorragenden Sachbüchern, CD-Roms, Wissenschaftsseiten und – magazinen bereit, um vorhandene Wissenslücken zu füllen. Wir leben im Informationszeitalter. Manchmal scheint mir, hier wird ein Mangel beklagt, der nicht existiert. Ob man Menschen, die heilfroh waren, naturwissenschaftliche Fächer schon in der Schule aus ihrem Leben hinauswählen zu können, jemals für die Anliegen der Forscher begeistern oder auch nur interessieren kann, ist fraglich.
Wenn die Wissenschaft glaubt, dieses vermeintliche Informationsdefizit dadurch bekämpfen zu müssen, daß sie sich zum Teil der modernen Event-Kultur macht, wenn sie meint, nur lauter als andere schreien zu müssen, um sich Gehör zu verschaffen, wenn sie sich kurzfristigen Moden und Trends unterwirft und mit denselben Mitteln um die knappen Güter Zeit und Aufmerksamkeit konkurriert wie Sport und andere Bereiche des Entertainments, dann begibt sie sich auf schlüpfriges Terrain, das ihr eigentlich wesensfremd ist. Alle, die Sie hier sitzen, wissen, daß wissenschaftliche Arbeit anders aussieht und ein hippes Spaß-Versprechen kaum einlösen kann. Eine Karrieregarantie, hohes Ansehen und die Aussicht auf ein planbares Leben bietet ein wissenschaftliches Studium schon lange nicht mehr. Natürlich heißt all das nicht, daß Wissenschaft nicht auf ihre Weise auch Spaß machen kann und das sollte bei ihrer Vermittlung gerade an Kinder und Jugendliche auch transportiert werden. Sie müssen derart an wissenschaftliche Denkweisen herangeführt werden, daß sie später souverän entscheiden können und nicht mit Abwehr reagieren müssen.
Es geht um eine Beschleunigungskrise und um Überforderungen auf beiden Seiten, aber, und dieser Aspekt scheint mit mitunter vergessen zu werden, es geht auch um konkrete Inhalte. Wenn man den Menschen bis ins Detail, verständlich und amüsant erläutert, wie reproduktives Klonen oder die Verpflanzung von menschlichen Köpfen funktionieren könnte, heißt das noch lange nicht, daß sie es automatisch gutheißen werden. Die Menschen stellen berechtigte Fragen und Wissenschaftler erwecken allzu oft den Eindruck, deren Beantwortung sei ihnen lästig und halte nur von der Arbeit ab.
Die Atombomben des zweiten Weltkriegs und die Giftwolken von Seveso und Tchernobyl sind in den Köpfen noch immer präsent. Dazu kommen heute ganz neue Belastungen: Fälschungsskandale in Einrichtungen, von denen man naiverweise glaubte, sie seien ausschließlich der Wahrheit verpflichtet, immer wieder Prophezeiungen von wissenschaftlich-technischen und wissenschaftlich-medizinischen Revolutionen, ein Begriff, der geradezu inflationär gebraucht wird, tiefgreifende Veränderungen jedenfalls, von denen niemand weiß, wann und ob und in welcher Form sie einmal Wirklichkeit werden, und vor allem eine immer undurchschaubarer werdende Verflechtung von Wissenschaft und Wirtschaft, zu etwas, das Enzensberger kürzlich im Spiegel als »wissenschaftlich-industriellen« Komplex bezeichnet hat. Wie soll selbst der interessierte Laie noch erkennen, wer wann in wessen Interesse redet? Was wird eigentlich beklagt, ein zukünftiger Mangel an Fachkräften, oder eine schleichende Diskreditierung der wichtigsten und effektivsten Methode des Erkenntnisgewinns, die uns zur Verfügung steht. Nur letzteres wäre im eigentlichen Wortsinn wissenschaftsfeindlich.
In meinen Veranstaltungen erlebe ich immer wieder, daß sich bei vielen Menschen das Bild der forschenden Wissenschaftler dem der Politiker annähert. Zur Politiker- gesellt sich Wissenschaftlerverdrossenheit? Man versteht sie nicht, ist eine häufig zu hörende Kritik. Sie machen sowieso, was sie wollen, und man kann sie noch nicht mal abwählen.
Für den beobachtenden Laien ist die Situation verwirrend. Das Wort »unseriös« ist zur Keule im öffentlichen Streit der Wissenschaftler untereinander geworden, und ehemals seriöse Wissenschaftler können unseriös werden und umgekehrt. James Watson etwa, von dem manche in den Kindertagen des von ihm mit initiierten Humangenomprojekts glaubten, er ließe dort seine eigene DNS sequenzieren, gilt vielen Kollegen heute trotz seines Nobelpreises als unseriös, und Linus Pauling, der später gleich zwei überaus seriöse Nobelpreise bekam, schlug, nachdem er als erster die genetische Ursachen einer Erkrankung, der Sichelzellenanämie, analysiert hatte, vor, Träger der betreffenden Gene sollten ein Zeichen auf ihrer Stirn tragen, damit man sie erkennen könne, was zweifellos nicht sonderlich seriös war.
Ob es den vielen Tausend Wissenschaftlern, die in ihren Institutionen verantwortungsvoll ihrer Arbeit nachgehen, gefällt oder nicht, es gibt sie und sie stehen im Rampenlicht: die Verrückten, die Bösen, die Besessenen, die Grenzüberschreiter wie Antinori, Ben-Abraham und Zavos, wie Richard Seed, der während des Klonspektakels in Rom das Mikrophon an sich riß und brüllte: »Ich werde meine Frau klonen und meine ganze Familie.« Wie Jacques Cohen, dem wir nun die Existenz von mindestens zwei süßen genetisch veränderten Babys verdanken. Oder James Grifo, der als einer der bestverdienenden Mediziner der USA seine Kerntransferversuche nur einstellte, weil ihm die öffentliche Empörung auf die Nerven ging, nicht weil man ihn dazu hätte zwingen können. »Ich wäre Gefahr gelaufen, daß irgendein Regierungsidiot mir später die Kariere kaputtmacht«, schimpfte er.
Es gibt die berechtigte Befürchtung, daß Menschen, die einfach handeln, ohne sich um Debatten und Verbote zu kümmern, Fakten schaffen könnten, Fakten, die irgendwann andernorts vielleicht zu Sachzwängen und Standortnachteilen werden.
Sicher warten Sie schon lange auf die Feststellung, daß Wissenschaft kein monolithischer Block ist. Natürlich nicht, sie ist so heterogen wie die Welt. Es sind nur einige wenige Räume dieses riesigen Gebäudes, die bei den Menschen Angst und Abwehrreflexe auslösen, aber dieser kleine Teil und einige der in ihnen arbeitenden Forscher richten unermeßlichen, kaum wieder gut zu machenden Schaden an und sie werden es weiter tun, wenn es nicht gelingt, Ihnen einen Riegel vorzuschieben. Ihre Arroganz, ihre Unbelehrbarkeit und offensichtliche Unkontrollierbarkeit drohen das ganze Gebäude in Verruf zu bringen, und es tut mir in der Seele weh, daß diese Leute heute nicht zuletzt aus der Biologie und ihren Nachbardisziplinen kommen, zu denen ich hier auch die Medizin zähle.
Ich muß gestehen, daß ich mich einer anderen Biologie verpflichtet fühle, meinetwegen einer altmodischen, Disziplinen, wie sie zum Beispiel im Ausschreibungstext des Grüter-Preises aufgezählt werden: Evolutionsforschung, Botanik, Meeresbiologie und Paläontologie. Klassische Fächer, deren Wurzeln weit zurückreichen und die heutzutage sicher niemandem Anlaß zu Verdrossenheit liefern, es sei denn, er oder sie hat sich einem dieser Felder verschrieben und ist auf der Suche nach einem Job. Für mich dient Forschung auf diesen und verwandten Gebieten vor allem einem Ziel: Die Zusammenhänge und Gesetze der Welt, in der wir leben, zu erkennen und zu verstehen und dann nach ihnen zu handeln, um uns, klüger geworden, reibungsloser und störungsfreier in ihr Gefüge einzuordnen. Alle Probleme der heutigen Zeit sind nicht entstanden, weil wir verstanden, aber zu wenig verändert haben, sondern weil wir viel zuviel verändert haben, ohne wirklich zu verstehen. Während der Arbeit an meinem Buch über Invasionsbiologie, stieß ich immer wieder auf erschreckende Wissenslücken, ja Ignoranz. Man baut einen Suezkanal, aber die Fauna des Roten Meeres und der östlichen Mittelmeeres war nahezu unbekannt. Nach Neuseeland wurden Tausende von Tier- und Pflanzenarten eingeführt, aber erst 1955, zweihundert Jahre nach dem Eintreffen der Europäer, erschien ein erstes schmales Bändchen über die einheimische Fischfauna.
Verzeihen Sie mir bitte, den emotionalen Ton: Aber eine Biologie, oder sagen wir Lebenswissenschaft, die nicht mehr die Organismen in den Mittelpunkt stellt, sondern nur noch das Wirken ihrer Gene im Blick hat und sich lautstark als Welt- und Naturverbesserer aufspielt, kann mir wie vielen anderen Menschen gestohlen bleiben, solange sie sich nicht glaubwürdig und mit mindestens derselben Energie, denselben finanziellen, technischen und menschlichen Ressourcen für Erforschung und Erhalt dieses unermeßlich wertvollen Schatzes einsetzt, dessen Teil wir sind und den wir Natur nennen.
Deshalb denke ich manchmal – bei aller Freude darüber, daß viele Wissenschaftler die Zeichen der Zeit erkannt haben und auf die Menschen zugehen -, glitzernde Inszenierungen zukünftiger Verheißungen wären glaubwürdiger, wenn nicht gleichzeitig bedeutende Tempel meiner Wissenschaft wie das nur wenige Meter entfernte Museum für Naturkunde inmitten einer mit Milliardenaufwand auf Hochglanz polierten Umgebung halb vergessen vor sich hin rotten würden.
Das wäre ein Ort, um Lebenswissenschaften zu vermitteln, eine der wichtigsten Institutionen ihrer Art in der Welt. Manche mögen den verstaubten Charme des 19. Jahrhunderts, den das Gebäude verströmt. Ich nicht. Ich finde seine Botschaft fatal. Sie sagt: All das war gestern, es ist überkommene Vergangenheit, wir sind längst darüber hinaus, sind dabei eine neue Welt zu bauen. Vielleicht wäre es für den Zustand großer Teile meiner Wissenschaft und ihres Forschungsgegenstandes sehr viel symptomatischer, wenn ihre Selbstdarstellung im Schummerlicht und unter den von Bombenlöchern und Wasserflecken verzierten Decken des Naturkundemuseums stattfinden würde, anstatt unter den funkelnahenneuen Dächern des Potsdamer Platzes. Die Biologie darf nicht so tun, als sei sie erst mit der Entdeckung der DNS erfunden worden. Sie ist viel größer. Wenn sie sich daran erinnerte, fiele es ihr vielleicht auch leichter, neue Freunde zu gewinnen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Laudatio anläßlich der Verleihung des Preises
von Matthias Glaubrecht, gehalten am 16.9.2001 in Berlin im Medizinhistorischen Museum
Meine sehr geehrten Damen & Herren,
Lieber Preisträger,
auch wenn uns die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Woche auf brutale Art gezwungen haben, uns auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu besinnen, auch dann werden Sie mir zustimmen, dass Wissenschaft ein wichtiger Faktor in unserem Leben darstellt, dass Wissenschaft eine Konstante unserer Zivilisation und Gesellschaft ist.
Allerdings: Bei der Vermittlung dieser Wissenschaft – bei der Verständlichmachung von Forschung, ihren Möglichkeiten und Grenzen – treiben wir mitunter Unverständliches.
Ich will hier gar nicht darauf herumreiten, dass das PUSH-Programm oder der Communicator-Preis – die ja den Dialog der Wissenschaft mit der Öffentlichkeit fördern sollen – dass sich diese Programme und Preise bezeichnenderweise englische Namen gegeben haben. Ich möchte hier vielmehr der weit wichtigeren Frage nachgehen, wie denn Wissenschaftler ihre Forschungen vermitteln. Auch die Hochdekortierten unter ihnen tun dies mitunter etwa so – Ich zitiere:
»Wenn die strings neben ihren normalzahligen Dimensionen der Zeit und des Raums zusätzlich noch Grassmann-Dimensionen haben, entsprechen die Kräuselungen Bosonen und Fermionen«.
Geschrieben hat das der Physiker und vielgelobte Autor Stephen Hawking in seinem jüngsten Sachbuch Das Universum in der Nußschale. Bekannt geworden ist Hawking mit seinem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit«, das weltweit 10 Millionen mal verkauft wurde und damit der größte Sachbucherfolg aller Zeiten ist. Allerdings dürfen wir getrost davon ausgehen, dass die wenigsten Käufer dieses Buch wirklich gelesen oder gar verstanden haben, so ein Kommentar von Ulrich Schnabel jüngst in der ZEIT. Spötter behaupten deshalb, es sei das »meistverkaufte ungelesene Buch seit der Bibel«.
Ganz ähnlich dürfte es sich mit dem 1985 erschienenen Band von Douglas Hofstadter verhalten: das geflochtene Band um Gödel, Escher, Bach – auch dies ein Kultbuch fürs Bücherregal, das übrigens meist nicht weit entfernt steht von Umberto Ecos »Foucaultschem Pendel« oder von der »Insel des vorigen Tages« – beides Barockromane, bei deren Lektüre man den Brockhaus immer in Reichweite haben sollte.
Einen anderen Weg, um der Öffentlichkeit Wissenschaft nahe zu bringen, geht unser Preisträger Bernhard Kegel. Seine Bücher verkaufen sich – bislang jedenfalls – noch nicht zehnmillionenfach; dafür aber werden sie offenbar gern gelesen – und ich bin ganz sicher: sie werden auch verstanden.
Bernhard Kegel geht insofern einen ungewöhnlichen Weg, weil er wissenschaftliche Romane schreibt, Science-fiction – wenn Sie so wollen. Und das ist bei der Vermittlung von Wissenschaft noch immer ungewöhnlich – zumindest in Deutschland. Sie wissen ja: Es ist dies jenes Land, wo man als Wissenschaftler leider erst mit Habilitation und Professorentitel ernst genommen wird – und oft schon gar nicht, wenn man sich in die angeblichen populärwissenschaftlichen Niederungen begibt.
So ganz geheuer war offenbar auch Bernhard Kegel dieser Umstand nicht. Und so hat er sich ursprünglich um den Grüter-Preis für Wissenschaftspublizistik nur mit seinem Sachbuch beworben; einem Sachbuch mit dem schönen Titel »Die Ameise als Tramp«; ich komme gleich darauf zurück.
Ungewöhnlich – und nicht nur deshalb zugleich auch preiswürdig – fanden wir dagegen Bernhard Kegels Versuch, Wissenschaft auch in Romanform verpackt zu servieren. Er hat dies 1993 erstmals in seiner Gentechniksatire »Wenzels Pilz« getan, in der gentechnisch veränderte Lebewesen erst freigesetzt werden – und sich dann größere Freiheiten im Ökosystem herausnehmen als ihnen zugedacht waren. Bereits recht früh hat Bernhard Kegel in diesem Roman viele Aspekte dessen vorweggenommen, wie sich in unserer Gesellschaft in Zukunft unser Verhältnis, unsere Einstellung zum Leben verändern könnte, wenn Gentechnik alltäglich wird und unsere Gene zur nur mehr manipulierbaren Information degradiert werden.
Nach diesem Blick in die Zukunft folgte dann 1996 mit dem Roman »Das Ölschieferskelett« die Rekonstruktion der Vergangenheit – eine skurrile Zeitreise und Paläontologie-Kolportage, in der Kegel ebenfalls erzählerisch Wissenschaft vermittelt – und in der er dem Leser zugleich einen intimen Blick in den Wissenschaftsbetrieb ermöglicht. Weniger die Phantastik der Schilderung und die leicht durchschaubare Fiktion – immerhin taucht da ein 50 Millionen Jahre altes menschliches Skelett komplett mit Armbanduhr und Zahnkronen auf -, als vielmehr die Präzision kleiner Beobachtungen aus den Alltag der Wissenschaft macht dieses Buch lesenswert. Und es läßt einmal nicht Politiker, Polizisten oder Börsenmakler zu Romanfiguren werden, sondern hier ist das Denken und Handeln von Forschern das Thema. Kegel macht damit deutlich, dass Wissenschaft sehr wohl spannend und lebendig sein kann – und erlebbar auch für Nicht-Wissenschaftler.
Ich habe deshalb keinen Zweifel, dass auch sein neuester, soeben erschienener Roman mit dem Titel »Sexy sons« wieder ein Lesevergnügen sein wird – ein Buch, das ganz nebenbei einen Blick hinter die Kulissen der Wissenschaft erlaubt.
Nun, wer ist dieser Bernhard Kegel? – Woher verfügt er über so intimen Einblick in den Wissenschaftsbetrieb. Ich darf Ihnen den Autor kurz vorstellen: Bernhard Kegel, Jahrgang 1953, hat in Berlin an der Freien Universität Biologie studiert und wurde von der Technischen Universität, an der er auch einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, 1991 promoviert – und zwar mit einer agrarökologischen Arbeit über »Freiland- und Laboruntersuchungen zur Wirkung von Herbiziden auf Laufkäfer«.Er ist also eigentlich ein Käferspezialist und Insektenforscher. Er war anschließend im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz in verschiedenen Projekten zur Bestandsaufnahme in Berlin heimischer Tiere beschäftigt, bevor er 1996 den mutigen Schritt wagte, sich fortan als freier Schriftsteller und Publizist zu betätigen und sich ganz dem Schreiben zu widmen.
Natürlich ist deshalb auch in erster Linie die Unterhaltung Kegels Ziel. Aber seine beiden Zeitreisen in die Zukunft und die Vergangenheit sind zugleich eine Besichtigungstour der wissenschaftlichen Gegenwart. Sie befinden sich auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft, nur dass sich eben die fundierte Sachkenntnis mit erzählerischen Qualitäten verbindet.
Diese fundierte Sachkenntnis geht soweit, dass Bernhard Kegel mit der Ameise als Tramp 1999 ein Sachbuch vorgelegt hat, das erstmals – und dies nicht nur im deutschsprachigen Raum – in Buchform die weltweiten Auswirkungen biologischer Invasionen untersucht und an einer Fülle von Beispielen darstellt. Bis dahin war es vielen Biologen und auch Nicht-Biologen verborgen geblieben, dass die Menschheit derzeit ein Experiment mit globalem Ausmaß durchführt. Nur durch langwierige plattentektonische Bewegungen kam es bislang in der Geschichte der Erde zu einem vergleichbaren Austausch von Tieren und Pflanzen, der Fauna und Flora von ganzen Kontinenten. Dieser Austausch über in geologischer Zeit entstandene Landverbindungen führte mehrfach zum Erlöschen vieler Arten und zum Verschwinden ganzer Evolutionslinien.
Heute führt der Mensch diese Wanderbewegung rund um den Globus an. Im Zuge seiner Globalisierung sorgt er auf vielfältige Weise für das Einschleppen ganz fremder Tier- und Pflanzenarten in Regionen, wo sie nichts zu suchen haben – aber eben unglücklicherweise oft umso mehr finden – und umso besser zurecht kommen. Der Mensch wiederholt damit ein Experiment, das in diesem Ausmaß zuletzt während der Kreidezeit – vor dem Aussterben der Dinosaurier – stattfand.
Bernhard Kegel beschreibt in seinem Buch Pharaoameisen, die sich in Computern häuslich einrichten, Pilze und Papageien, die sich breitmachen, Schlickkrebse und Zebramuscheln, die sich massenhaft ausbreiten und Millionenschäden verursachen. Dank des Themas, aber auch aufgrund der angemessenen, nüchtern-abwägenden Sprache und Darstellung des Autors liest sich selbst dieses Sachbuch eigentlich wie ein Krimi. Auf anschauliche Weise behandelt es vergangene Invasionswellen, gegenwärtige Verdrängungskämpfe und wagt einen Ausblick auf zukünftige biologische Bedrohungen.
Es gibt also eine Vielzahl von Argumenten, Bernhard Kegel mit dem diesjährigen Inge und Werner Grüter-Preis für Wissenschaftpublizistik auszuzeichnen. Ich bedaure, dass ich hier aufgrund der gebotenen Kürze der Laudatio diese Argumente nur umreißen kann. Ich kann Sie aber auf die Lektüre seiner Werke verweisen, und Ihnen wünschen, dass sie auch Ihnen ein großes Lesevergnügen bereiten mögen.
Seine Bücher – seien es nun das Sachbuch oder die Romane – sind ein Plädoyer für die Forschung, für die Wissenschaft als wichtigen Teil unserer Kultur und Gesellschaft. Der Preis gebührt Bernhard Kegel, weil er sich – mehr als so mancher Wissenschaftler mit Habilitation und Professur – darum bemüht hat, Wissenschaft einer möglichst breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen.
Sein Versuch, dies mit erzählerischen Mitteln zu tun, bedeutet ein Wagnis und eine Gradwanderung – eine Gradwanderung, bei der er indes mit sicherem Schritt die Balance gehalten hat zwischen dem Anspruch an Verständlichkeit und Unterhaltungen auf der einen Seite und dem Anspruch an sachliche Richtigkeit und Wissenschaftlichkeit auf der anderen Seite.