Der Löwe ist Löwe und ist immer Löwe geblieben, und das Gleiche gilt für Elefanten, Nashörner, Mammuts, Höhlenbären, Säbelzahnkatzen und all die anderen Großtiere, die bis in unsere Zeit überlebt oder sie nur um ein paar Tausend Jahre verfehlt haben. Für Dinosaurier gilt es nicht. Seit der britische Anatom Richard Owen ihnen Mitte des 19. Jahrhunderts den Namen »Dinosauria« gab, haben sie sich (bzw. hat sich die Vorstellung, die wir uns von ihnen machen) immer wieder gewandelt. In Abhängigkeit von neuen Fossilfunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen durchliefen sie mehrere zum Teil drastische Metamorphosen, wurden von der kriechenden Rieseneidechse zum aufrecht stehenden Kängurudrachen, vom schwerfälligen Kaltblüter zum dynamischen und intelligenten Jäger und zuletzt – vielleicht die überraschendste aller Wendungen, die bislang erst von einer Minderheit der Menschen wahrgenommen wurde – von der beschuppten Echse zum gefiederten Riesentruthuhn. Fast hat es den Anschein, als ob jede Menschengeneration sich ihre eigenen Dinosaurier geschaffen hätte. Diesem Gestaltwandel und seinen Spiegelungen und Resonanzen im Geistes- und Kulturleben der jeweiligen Zeit spürt das Buch nach und bietet dabei auch, jenseits der Biologie, rein fiktiven Gestalten wie Drachen, Godzilla und King Kong Raum.
Tatsächlich muss es hier um beides gehen, um Naturwissenschaft und um Kultur, denn die Dinos waren nicht nur spektakuläre Lebewesen, von denen noch heute eine kaum zu überbietende Faszination ausgeht, sie waren und sind auch Teil der Populärkultur, ein Besuch in einem Spielzeugladen, einem Kino oder einer Videothek macht das überdeutlich. Von allen Tieren haben es, abgesehen vielleicht von den Mammuts, nur die Dinosaurier geschafft, in einen Status der Quasi-Unsterblichkeit einzutreten, obwohl es dafür unter den Urzeitwesen viele Kandidaten gegeben hätte, skurrile wie spektakuläre. Dinos sind Stars, Helden der Literatur und der Kinoleinwand, Fernsehberühmtheiten und Hauptdarsteller der Erdgeschichte. Und einer von ihnen ist der unbestrittene König, ein Megastar: T. rex.
Es geht aber nicht nur um ihre Kraft, um Tonnen von Muskelmasse, um Zähne wie Dolche, um keulenbewehrte Schwänze und mit Speeren gespickte Knochenkragen, um Kämpfe und Tänze, bei denen der Boden bebte. Dinosaurier sind nicht nur für Rekorde gut. Mehr als alle anderen verschwundenen Lebensformen erinnern sie uns daran, dass der Existenz selbst der gewaltigsten Wesen auf diesem Planeten zeitliche Grenzen gesetzt sind.
Dinosaurier sind Kult und waren es von dem Moment an, da ihre versteinerten Knochen zum ersten Mal einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert wurden. Schon immer wollten die Menschen sich ein Bild von diesen unglaublichen Kreaturen machen, und im 20. Jahrhundert erweckte der Film sie sogar zum Leben. Der Traum von Ray Bradbury, der zusammen mit seinem Freund, dem Hollywood-Trickspezialisten Ray Harryhausen, den ultimativen Monsterfilm schaffen wollte, ist längst Wirklichkeit geworden. Niemand staunt heute mehr, wenn Dinos lebensecht über die Leinwand galoppieren. Dank ausgefeilter Computeranimationen erscheinen uns Dinosaurier heute so real und präsent wie jede beliebige auf Erden lebende Tierart – mit dem Unterschied, dass viele Kinder zwar die komplizierten lateinischen Namen von mindestens einem halben Dutzend Dinos aufzählen können, aber keine einzige Vogel- oder Pflanzenart des nächstgelegenen Stadtparks.
Doch wie gut kennen wir die Riesenechsen und ihre Welt wirklich? Wie authentisch sind die Wesen, die heute durch die »Jurassic World« stapfen? Nicht nur der Konzeptkünstler Alexis Dworsky, dem wir eine wunderbare und kenntnisreiche Kulturgeschichte der Dinosaurier verdanken, warnt: »Unsere Vorstellung des Dinosauriers ist nicht nur von der Naturwissenschaft bestimmt, sondern auch von der Politik, der Wirtschaft, der Kunst und anderen Lebensbereichen. Die vermeintlich rein naturwissenschaftliche Erkenntnis ist also keineswegs frei von gesellschaftlichen Einflüssen.«
Zweifellos wissen wir heute ungleich mehr über die ausgestorbenen Reptilien als die Menschen im 19. Jahrhundert, vermutlich waren aber auch die Wissenschaftler vor fünfzig oder hundert Jahren überzeugt davon, »ihre« Dinosaurier zu kennen. In jedem Fall täten wir gut daran, gegenüber den computeranimierten Riesenechsen und ihrer scheinbaren Perfektion ein wenig Skepsis zu bewahren. Der Tyrannosaurus rex hat mittlerweile in vielen Filmen mitgewirkt, sah aber in jedem Streifen anders aus. Welcher ist der richtige, der wahre T. rex?
Erinnern Sie sich an die Szene mit dem Wasserglas? Bestimmt tun Sie das, denn natürlich haben Sie den Film gesehen, Jurassic Parkwar schließlich bis 1998 der erfolgreichste Blockbuster aller Zeiten (bevor James Cameron mit Titanic neue Maßstäbe setzte), und Sie hätten sonst nicht zu einem Buch über Dinosaurier gegriffen. Im Mittelpunkt dieser Szene stehen neben dem mit Wasser gefüllten Glas zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, die es fassungslos anstarren. Der Held ist aber ein anderer. Er ist nicht zu sehen, wohl aber zu hören und zu spüren. Er erzeugt die dumpfen stampfenden Laute, die seit einer Weile zu hören sind, erst leise, dann lauter, Erschütterungen, die im Wasserglas zu konzentrisch zulaufenden Wellen führen. Die Zuschauer wissen, wer der Verursacher dieser Minibeben ist, einer, auf den alle warten, der aber bisher nur schemenhaft zu sehen war – eine Gänsehautszene, die niemand vergisst, der sie gesehen hat. Weil sie so gut funktioniert, wird sie in diesem und folgenden Filmen in verschiedenen Variationen wiederholt.
Sicher, ein Kinosessel ist nicht der Ort für nüchterne Überlegungen. Versuchen wir es trotzdem. Die Tiere sind zweifellos riesig und wiegen viele Tonnen – müssen sie deshalb mit jedem Schritt ein kleines Beben auslösen? Keineswegs. Elefanten, die größten Landtiere der heutigen Zeit und etwa in der gleichen Gewichtsklasse wie ein Durchschnitts‑T.-rex, können, wenn sie wollen, sehr behutsam auftreten.
Nehmen wir einmal an, Sie und ich wären Raubtiere, egal, wie groß, und darauf angewiesen, Beute zu machen, also andere Tiere zu überfallen und zu töten, Tiere, die sich diesem Schicksal in der Regel nicht freiwillig ergeben – würden wir dann bei jedem Schritt derart auf den Boden stampfen, dass man unsere Anwesenheit schon in etlichen Hundert Metern Entfernung spüren könnte, auch ohne Wasserglas? Potenzielle Beutetiere verfügen in der Regel über scharfe Sinne. Rechtzeitige Flucht ist ihre wirksamste Überlebensstrategie. Ich fürchte daher, ein solches Raubtrampeltier hätte beim Beuteerwerb große Schwierigkeiten, im Erdmittelalter genauso wie heute. Oder es müsste von Aas leben, von fleischlicher Nahrung, die nicht mehr weglaufen kann. Dem T. rex, Verursacher der berühmten Turbulenzen im Wasserglas, wurde genau das wiederholt nachgesagt.
Betrachten wir noch eine andere Eigenschaft, die offenbar typisch für die Riesenechsen ist, denn sie darf in keiner anständigen Dinofilmszene fehlen. Saurier – vor allem ihre fleischfressende Variante, die uns, wenn wir ehrlich sind, am meisten interessiert – können wahnsinnig toll brüllen. Um dem Hauptdarsteller eine unverwechselbare Stimme zu geben, haben die Sounddesigner ganze Arbeit geleistet und Lautäußerungen von Krokodilen, Löwen und anderen zusammengemischt. Wir erleben es immer wieder, kaum ist der Tyrannosaurus oder irgendein anderer Raubsaurier erdbebengleich ins Kamerabild getrampelt, fixiert er uns Zuschauer und brüllt, dass einem die Ohren klingen. Alle, vor und auf der Leinwand, sind starr vor Schreck und machen sich auf das Schlimmste gefasst.
Nun, Sie ahnen es schon, auch dieses den Sauriern von einfallsreichen Filmregisseuren angedichtete Verhalten ist Unsinn. Denn welches Raubtier verhält sich so? Träfe ein Saurier auf einen Rivalen, würde das Gebrüll vielleicht Sinn ergeben, aber sonst … In weitem Umkreis würden Beutetiere vertrieben und verschreckt werden. Alle wären gewarnt und würden das Weite suchen oder sich verstecken. Raubsaurier, die sich derart geräuschvoll verhielten, wären zum Verhungern verurteilt.
Das sind zwei Beispiele, die zeigen, wie sehr unsere Vorstellung von Hollywood geprägt wurde und nicht von seriöser Wissenschaft. Filmregisseure, die in ihren Werken Dinosaurier auftreten lassen, wollen in der Regel keine Tiere zeigen, sondern Monster und Bestien, für die ein Mensch nur ein kleiner Snack zwischendurch wäre. Um des Effektes willen scheuen sie sich nicht, Arten in einer Art virtuellem Gladiatorengemetzel aufeinandertreffen zu lassen, die in Wirklichkeit durch Jahrmillionen oder riesige Ozeane voneinander getrennt waren. Es herrschen die Gesetze des Kinos, nicht der Biologie. Den Filmproduzenten geht es um Show, nicht um Wahrheit, was, damit kein Missverständnis entsteht, ihr gutes Recht ist.
Auch den Weißen Haien ist es so ergangen (interessanterweise war mit Steven Spielberg in beiden Fällen der gleiche Regisseur verantwortlich), und anders als bei den Sauriern, denen eine verzerrte Darstellung nicht mehr schaden kann, hatte das Auftreten des Weißen Hais als Filmbösewicht verheerende Folgen für das Image dieser Tiere, möglicherweise sogar für ihr Überleben. Peter Benchley, der die literarische Vorlage für Der weiße Hai (Originaltitel Jaws) lieferte, war später entsetzt darüber, welches Bild damit in die Köpfe der Menschen gepflanzt wurde, und er versuchte das, was sein Buch und vor allem der Film angerichtet hatten, durch weitere Bücher, durch Vorträge und Fernsehfilme zu korrigieren – mit nur mäßigem Erfolg. Der Ruf des Weißen Hais war nachhaltig ruiniert. Würden wir die Dinos genauso lieben, wenn sie heute leben und gelegentlich einen Menschen verspeisen würden?
Wer als Tier und zu Lebzeiten seiner Spezies zum Teil der Popkultur wird, muss mit dramatischen Konsequenzen rechnen. Die »Ninja-Turtles«-Filme führten zu einer enormen Nachfrage nach kleinen paddelfüßigen Wasserschildkröten, die ihren jungen Besitzern bald langweilig wurden und nicht selten in freier Natur landeten, mit dem Ergebnis, dass amerikanische Rotwangenschmuckschildkröten und ihre bissige Verwandtschaft heute in großer Zahl europäische Gewässer bevölkern, um dort zu einem ökologischen Problem zu werden und sorglos badenden Kindern gelegentlich in Hände oder Füße zu beißen. Noch schlimmer ist es den Artgenossen des niedlichen Clownfischs ergangen, dem kleinen bunten Helden des Oskar-prämierten Findet Nemo. Man fing sie weg und entvölkerte die Korallenriffe, obwohl vielen Filmzuschauern nicht einmal klar war, dass man ein Meerwasseraquarium braucht, um sie zu halten.
Die Dinosaurier dagegen profitierten von ihren Leinwandauftritten und erlangten eine ungeahnte Popularität. Nie zuvor hat man sie uns so glaubwürdig und lebendig zeigen können wie heute. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Einerseits sollen die dargestellten Riesenreptilien dem Stand der Forschung entsprechen, vor allem – das sollten Dinofans nie vergessen – müssen sie aber dramaturgischen und kommerziellen Überlegungen folgen, und da macht es sich eben viel besser, wenn Tiere von solch gewaltiger Größe die Welt bei jedem Auftritt seismisch und akustisch zum Erzittern bringen.
Wie waren sie wirklich, unsere geliebten toten Riesen? Was wissen wir über sie und was nicht? Wie hat sich unser Bild der Riesenechsen gewandelt und warum? Was ist aus ihnen geworden? »Dinosaurier« und »Aussterben« – das ist ein Wortpaar, das immer zusammen gedacht wird, auch wenn wir heute wissen, dass es nicht für alle Dinos zutrifft. Ein Teil, hervorgegangen aus einer Gruppe relativ kleiner Raubdinosaurier, lebt heute mitten unter uns und bildet mit zehntausend Arten eine der buntesten, vielgestaltigsten und lautstärksten Tiergruppen des Planeten. »Vögel sind Dinosaurier – nicht nur Verwandte oder Abkömmlinge«, betonen die Paläontologen Darren Naish und Paul Barrett. Und ihr New Yorker Kollege Mark Norell präzisiert: »Weil Vögel von Dinosauriern abstammen, sind sie Dinosaurier, genauso wie wir Menschen Säugetiere sind.« Wahrscheinlich brauchen wir einen neuen Blockbuster aus Hollywood, der diese Erkenntnis in spektakuläre Bilder und eine spannende Handlung umsetzt, um sie endlich zu glauben.
Als Anchorman für diese und viele andere Fragen soll uns das Monster schlechthin dienen, der berühmteste aller Dinosaurier, der Tyrannosaurus rex. Seit ein Prachtexemplar der Königsechse im Berliner Museum für Naturkunde Hof hält, haben sich die Besucherzahlen dort verdoppelt. Die Faszination der Dinos ist ungebrochen und der T. rex ist ihr King, auch wenn ihm sein Name in der Rückschau vielleicht etwas voreilig verliehen wurde. Mittlerweile kennen die Paläontologen andere Echsen, die ihm mindestens ebenbürtig waren.
Tristan Otto, so der profane Name des Berliner Exemplars, ist eines der vollständigsten Skelette, die je gefunden wurden, und (fast) das einzige in ganz Europa. Besonders der Schädel ist nahezu komplett. Was kann uns ein solches Fundstück heute erzählen? Wie entlocken die Wissenschaftler Tristan Otto die Antworten auf ihre Fragen? Und – Gott bewahre – trug etwa auch T. rex Federn? Krähte er, statt zu brüllen?
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