Einleitung
»Damit uns kein Fehler unterläuft: Wir erleben eine der großen historischen Umwälzungen von Fauna und Flora dieser Welt.«
Charles Elton
Expansion ist ein Merkmal des Lebens. Überall und zu jeder Zeit versuchen sich Pflanzen und Tiere in neuen Lebensumständen. Sie tasten sich über die Grenzen ihrer bisherigen Existenz hinaus, scheitern und beginnen wieder von neuem. Die Vielfalt der Anpassungen, die sich die Lebewesen zu diesem Zweck haben einfallen lassen, ist unüberschaubar. Sie laufen, schwimmen, fliegen, segeln, lassen sich treiben oder nutzen die Körper anderer Lebewesen als Taxiservice. Viele haben in ihrem Lebenszyklus spezielle Verbreitungsstadien entwickelt, Samen mit Fallschirmen oder Hafteinrichtungen, federleichte Sporen, mobile Larven. Sie gewährleisten, daß die zahlreichen Nachkommen über ein möglichst großes Gebiet verteilt werden. Verluste sind einkalkuliert. Die Entdeckung und Besiedlung neuer Lebensräume war und ist für Tiere und Pflanzen eine Überlebensfrage. Stillstand kann den Tod bedeuten. Tümpel trocknen aus, Seen verlanden, Wälder brennen ab, ganze Kontinente vereisen.
Lange Zeit gab es Hindernisse, die sich auch der ausgeprägtesten Reiselust widersetzten. Für einen Planktonkrebs der Karibik war es unmöglich, aus eigener Kraft in den tropischen Pazifik zu gelangen, genauso aussichtslos war der Versuch einer europäischen Maus, sich ins entlegene Tasmanien abzusetzen. Gebirge, Ozeane, Kontinente, Wüsten bildeten ein unüberwindbares Bis-hierher-und-nicht-weiter. Hätte es diese natürlichen Barrieren nicht gegeben, eine Fauna wie die Madagaskars, Australiens, Neuseelands, Hawaiis oder der Galapagos-Inseln mit ihren vielen Absonderlichkeiten hätte sich niemals entwickeln und erhalten können. Gerade ozeanische Inseln, von vielen tausend Kilometern Wasser abgeschirmt, waren der ideale Nährboden für spektakuläre biologische Sonderwege, seien es die Beuteltiere in Australien oder die Riesenschildkröten auf Galapagos.
Mit dem Erscheinen des modernen Menschen hat sich die Situation grundlegend verändert. Vor dem Hintergrund einer Tier- und Pflanzenwelt, die darauf programmiert ist, sich zu vermehren und nach neuen Chancen und Lebensräumen zu suchen, beginnen wir die bestehenden Barrieren abzubauen, Kontinente zu durchstoßen und Ozeane zu verbinden. Ein immer dichter werdendes Netz von Verkehrswegen, von Kanälen, Straßen und Brücken verknüpft, was überJahrtausende undJahrmillionen getrennt war. Schiffe und Flugzeuge transportieren unermeßliche Warenmengen von einem Kontinent zum anderen.
Und die Natur reist mit, in Säcken, Ritzen und Kisten, verborgen im tonnenschweren Ballast aus Steinen, Erde und Wasser, versteckt hinter Rohren, Verkleidungen und Verstrebungen. Eine ganze Armada von Organismen läßt sich als blinde Passagiere mit verschiffen und landet so irgendwann an neuen Ufern. Andere reisen ganz offiziell, in Aktenkoffern, Spezialbehältern und Sammlungen, in Käfigen und schwimmenden Stallungen, sind Teil des explodierenden globalen Warenverkehrs. Manche werden in fernen Parks und Gärten gepflegt, brechen dann aus in die Freiheit, entkommen aus Umzäunungen, Gehegen und Zuchtfarmen oder werden ganz einfach in die Landschaft gekippt. Im Schlepptau der Menschen ergießt sich eine Welle von ökologischen Siegertypen selbst über die abgelegensten Gegenden der Erde. Eine Welt der unterscheidbaren Floren und Faunen wird so über kurz oder lang zum großen »Durcheinander«.
Die Biogeographie, die sich mit der Verbreitung von Tier- und Pflanzenarten beschäftigt, droht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr geht es wie einem Kommissar, der am Tatort eines Verbrechens entscheidende Beweismittel verschoben, vertauscht und verändert vorfindet und daraus noch den Hergang der Tat rekonstruieren soll. In einem Fachbuch beklagte jüngst ein Tiergeograph, »daß es unmöglich geworden ist, sich einen befriedigenden Überblick über Ablauf und Ergebnis der durch Einschleppung oder absichtliche Einbürgerung bewirkten Faunenveränderungen zu verschaffen«. Überall auf der Erde werden der tiergeographischen Forschung und verwandten Disziplinen »Grundlagen entzogen und Quellen verschüttet«. Eine neue Wissenschaft erhält Aufwind, die Invasionsbiologie.
Da die Welt immer enger zusammenrückt und die vielgerühmte menschliche Lernfähigkeit in diesem Fall offenbar blockiert ist, wächst sich die organismische Reisefreudigkeit – ob als a blinder Passagier oder als gehätschelter Pflegling – zu einem riesengroßen Problem aus. Prominente Wissenschaftler halten es neben der immer weiter fortschreitenden Biotopzerstörung für die größte Gefahr, die den verbliebenen Naturräumen dieser Erde heute droht. Für einige ist es schlicht das Umweltproblem der zweiten Hälfte dieses Jahrtausends. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist minimal, zumindest bei uns in Europa. Die globalen wirtschaftlichen und ökologischen Schäden sind dafür um so größer.
Eine vom amerikanischen Kongress in Auftrag gegebene Studie (des Office of Technology Assessment) kalkulierte den bis 1991 durch nichteinheimische Arten verursachten volkswirtschaftlichen Schaden auf fast 100 Milliarden Dollar, allein in den USA. Dabei stiegen die Kosten von Jahr zu Jahr an und liegen heute bei über einer Milliarde Dollar jährlich. Die tatsächlichen Verluste sind damit weit unterschätzt, denn aus Mangel an Informationen wurde nur ein Bruchteil der mindestens 4500 eingeschleppten Tier- und Pflanzenarten berücksichtigt. Umweltschäden, etwa der Verlust einheimischer Pflanzen- und Tierarten, sind in dieser Summe nicht enthalten.
Nicht berücksichtigt sind die überaus kostspieligen Auswirkungen eingeschleppter Unkrautarten. Sie verursachen in der Landwirtschaft jährliche Verluste von 2 bis 3 Milliarden Dollar, dazu kommen Aufwendungen für Herbizide in Höhe von weiteren 1,5 bis 2,3 Milliarden Dollar. Da die Zahl in der Natur etablierter Eindringlinge überall auf der Welt wächst und sie nur in Ausnahmefällen wieder zu beseitigen sind, werden die von ihnen verursachten Schäden weiter zunehmen. In einem Szenario, das nur 15 der fremden Problemarten berücksichtigt, prognostiziert die US-Studie weitere Verluste bis zu 134 Milliarden Dollar.
Der Historiker Edward Tenner sieht darin einen typischen Racheeffekt, die offenbar unvermeidliche Konsequenz technologischer Innovation und allzu optimistischen Fortschrittsglaubens. Immer wieder und trotz aller einschlägigen Erfahrungen setzen die Menschen fatale Ereignisketten in Gang, deren Konsequenzen nie wieder zu beseitigen sind. Oft sind handfeste ökonomische Interessen im Spiel, vielfach nur Ignoranz, Nostalgie oder romantisches Fernweh.
Freisetzungen fremder Pflanzen- und Tierarten geschahen in den besten Absichten. Als Jagdwild, Pelzlieferant, Schädlingsvertilger oder Erosionsschutz wurden sie geholt, als Waldzerstörer, Killer oder Verdränger einheimischen Lebens blieben sie. Die Namen, die man ihnen in ihren neuen Heimatländern gegeben hat, lassen erahnen, daß sie den Gastgebern nicht nur Freude bereiten: Von grünem Krebs ist die Rede, von Monstern, Killeralgen, apokalyptischen Pflanzen und ökologischen Bomben, vom Alptraum, geboren im Wasser, von Killerbienen, Mörder- und Unkrautbäumen, von schöner oder blühender Pest, von grüner Hölle und roter Flut … oder einfach von Mistzeug.
Die Wellen schlagen hoch. Die einen sprechen von ökologisch minderwertig, von Überfremdung, Unterwanderung und Verfälschung, die anderen warnen vor »Gehölzrassismus« und einer »Hexenjagd auf Neophyten«.
Ausgerüstet mit Fallen, Gewähren und Giften, mit Spaten, Bulldozern und Kettensägen rücken überall in der Welt Arbeitskommandos aus, um unerwünschte Eindringlinge mit Stumpf und Stiel auszurotten. Ein meist vergebliches Unterfangen. Ob Wasserhyazinthen in Florida oder im Viktoriasee, Staudenknöterich und Spätblühende Traubenkirsche in Europa, Ginster in Kalifornien und Kaninchen in Australien und Neuseeland, eine Rückkehr zum Status ante ist ausgeschlossen.
Nur wenige der Eindringlinge können sich in ihrer neuen Heimat auf Dauer halten. Andere überleben nur deshalb, weil die Menschen sie hegen und pflegen und immer wieder für Nachschub sorgen. Manche Invasoren überrollen das neue Territorium mit explosionsartiger Vermehrung und versinken plötzlich in der Bedeutungslosigkeit. Andere führen über Jahrzehnte ein kümmerliches Schattendasein und setzen dann plötzlich zum unaufhaltsamen Siegeszug an. Das Ganze mutet an wie ein weltumspannendes populationsdynamisches Experiment und wird von manchem Forscher auch so wahrgenommen.
Die Invasionsbiologie hat viele seltsame, lehrreiche und spannende Geschichten zu bieten. Einige sollen hier erzählt werden, aus der Sicht eines Biologen, nicht der eines Historikers. Eine vollständige Darstellung verbietet sich von selbst. Die Verschleppung von Fauna und Flora hat vollkommen unüberschaubare Ausmaße angenommen. Trotzdem möchte ich in Zeiten der Globalisierung den Versuch wagen, das Problem der biologischen Invasionen als globales Phänomen darzustellen. Nur so kann man ihm gerecht werden.
Für mich als in Mitteleuropa lebendem Biologen ist es selbstverständlich, daß die Situation im Zentrum der Alten Welt einen Schwerpunkt dieses Buches bilden muß, zumal bislang keine allgemeinverständliche Darstellung des Themas existiert. Die Lage in Europa ist vergleichsweise undramatisch, aber auch wir sind in dieses weltweite organismische Tohuwabohu verwickelt, obwohl kaum jemand davon Notiz nimmt. Die, die es tun, neigen oft zu heftigen Reaktionen. Ein Blick in andere Regionen der Welt hilft, die Relationen zurechtzurücken.
Die Alte Welt war im weltweiten Organismenverkehr eher Spender als Empfänger. Die Liste der in Europa lebenden exotischen Tier- und Pflanzenarten ist lang, sogar viel länger, als die meisten Menschen hierzulande ahnen, aber von katastrophalen Auswüchsen sind wir weitgehend verschont geblieben.
Andere Gegenden der Erde hatten weit mehr zu leiden, und dies nicht zuletzt als Folge europäischer Organismenexporte. Der Imperialismus der Europäer hatte eine oft übersehene ökologische Komponente, ohne die sein nachhaltiger Erfolg vor allem in den gemäßigten Klimazonen der Erde kaum möglich gewesen wäre.
Zum Beispiel Neuseeland. Die Inselrepublik im fernen Südpazifik soll als Gegenstück zur Situation in Deutschland und Mitteleuropa dienen. Beide Länder liegen in ähnlichen Breitengraden – wir leben etwas polnäher als die Menschen down under -, beide Staaten sind etwa gleich groß. Aber die Unterschiede fallen eher ins Auge. Deutschland ist Teil des riesigen Eurasiens, Neuseeland hingegen eine der isoliertesten Landmassen der Erde. Erst in fast 2000 Kilometern Entfernung stoßen Neuseeländer auf ihren nächsten größeren Nachbarn. Die ursprüngliche Tier- und Pflanzenwelt beider Länder könnte unterschiedlicher nicht sein. Der Mensch spielt in Europa seit Jahrtausenden eine entscheidende Rolle, in Neuseeland erst seit wenigen hundert Jahren. Wie werden zwei so unterschiedliche Ökologien mit dem Problem eingeschleppter Arten fertig?
Wem es nur darauf ankommt, daß alles schön grün ist, dem dürfte die hier beschriebene Entwicklung egal sein. Wem die Lebensvielfalt dieser Erde etwas bedeutet, ob aus ökonomischen, ökologischen oder ethischen Überlegungen, den kann das Phänomen nicht gleichgültig lassen.