Einleitung
Wahrscheinlich mögen Sie keine Bakterien. Niemand mag sie. Bakterien verursachen abscheuliche Krankheiten und gedeihen da, wo Chaos und Verfall regieren, das weiß jedes Kind, spätestens seit es Geschichten über die Zahnzerstörer Karius und Baktus gehört hat. Diese Abneigung sitzt tief und ist wohlbegründet. Ganze Heerscharen von Ärzten verschrieben sich dem Kampf gegen Bakterien, und einige haben dabei sogar ihr Leben verloren. Koch, Pasteur, Virchow, die größten Heroen der Medizingeschichte, gelangten zu Ruhm, weil sie wichtige Erkenntnisse über Bakterien gewinnen und Etappensiege über einzelne Erreger erringen konnten. Dass diese Mikroben auch unsere Abwässer reinigen und unschätzbare ökologische Dienste beim Abbau organischer Substanz leisten, dass es ohne sie weder Harzer Käse noch Joghurt oder Essig gäbe … geschenkt. Die Vorstellung, Ihre Umgebung, Ihr Badezimmer, Ihre Küche, der Kühlschrank und die Spüle, ja, Sie selbst könnten mit Unmengen von Bakterien und anderen Mikroben kontaminiert sein, ist Ihnen sicher ein Graus, und vermutlich tun Sie das Menschenmögliche, um dieser unsichtbaren Plage Herr zu werden. Alle tun das.
Keine Angst, ich werde im Folgenden nicht versuchen, Ihr Mitleid zu erwecken, werde nicht über arme schutzlose und bedrohte Mikroben lamentieren, die, statt von uns erbittert bekämpft zu werden, im Grunde Mitgefühl und Wertschätzung verdienten. Das haben diese Winzlinge nicht nötig. Sie sind so unfassbar viel älter als alles, was sich je mit Hilfe von Beinen, Flügeln oder Flossen über diesen Planeten bewegte oder in seinem Boden wurzelte. Gemessen an ihrer Zahl und der Vielfalt ihrer Lebensstrategien sind Mikroben unangefochten die vorherrschende Lebensform auf Erden. Und sie waren es von Anbeginn. Hätte es einige von ihnen nicht gegeben, die Erde wäre für alle Zeiten der lebensfeindliche Planet geblieben, der sie einmal war, und komplexere Lebensformen, wie wir sie kennen – die Pflanzen, Pilze und Tiere –, wären nie entstanden. Auch ein paar hundertmillionen Jahre Evolution der Vielzeller haben an ihrer herausragenden Position nichts geändert. Wie bizarr und imposant die vermeintlichen Herrschertiere zu Lande und zu Wasser auch gewesen sein mögen, die Dinosaurier und Ammoniten, Trilobiten und Insekten, Säugetiere und Vögel, der Mensch – die Erde ist seit der Entstehung des Lebens ein Planet der Mikroben gewesen und sie ist es bis heute geblieben.
Doch selbst wenn man guten Willens ist: Wie soll man etwas wertschätzen, das man nicht einmal sehen kann, Killer unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, die Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben? Pest, Typhus, Cholera, Diphtherie, Syphilis, Tuberkulose, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Erst mit der Entdeckung des Penizillins und der Entwicklung von Impfstoffen haben diese und viele andere Krankheiten ihren Schrecken verloren – für Menschen, die das Glück haben, in Ländern mit guter medizinischer Versorgung zu leben, keineswegs für alle. Und Meldungen über die bedrohliche Zunahme multiresistenter Bakterienstämme lassen erahnen, dass dieser Triumph über die Mikroben möglicherweise nicht von Dauer sein könnte. Die wichtigsten Waffen, die wir gegen sie in Stellung gebracht haben, beginnen stumpf zu werden.
Ein Autor, der einen derartigen Unsympathen zum Helden seines Buches machen möchte, hat ein Problem. Auf den folgenden Seiten wird es um revolutionäre neue Erkenntnisse der Biowissenschaften gehen, die uns alle angehen und interessieren sollten. Sie betreffen uns Menschen und wahrscheinlich jeden anderen Organismus auf diesem Planeten und sie werden die Art, wie wir uns selbst und das Phänomen Leben sehen, auf eine Weise verändern, die noch gar nicht abzusehen ist. Sie sollten also versuchen, gegenüber Bakterien und den anderen einzelligen Helden, denen Sie auf den folgenden Seiten begegnen werden, zumindest für die Zeit Ihrer Lektüre eine eher entspannt-gelassene Haltung einzunehmen. Obwohl auf fast jeder Seite von ihnen die Rede sein wird, ist dies kein Buch, das in erster Linie von Bakterien und anderen Mikroben handelt. Im Mittelpunkt steht die Verknüpfung von Mikro- und Makrokosmos, das faszinierende Miteinander von überaus versierten Einzellern und allen anderen Lebewesen einschließlich des Menschen. Mit modernsten Methoden sind Wissenschaftler dabei, den Vorhang vor einem Schauspiel zu lüften, das weniger von Krankheit, Siechtum und Tod als von Gesundheit, Kooperation und Arbeitsteilung handelt. Sie werden eine ganz andere und viel freundlichere Seite dieser kleinsten aller Lebewesen kennenlernen. Außerdem haben wir keine Wahl. Entkommen kann man ihnen nicht.
Menschen sind Teil der Natur, Teil der Ökosysteme dieser Erde – Sätze wie diese sind fast schon zu Binsenwahrheiten verkommen, nicht erst in Zeiten des globalen Wandels. Aber wurden sie konsequent zu Ende gedacht? Unser Tun verändert die Welt, hat Auswirkungen auf zahllose Lebewesen, die den Lebensraum mit uns teilen. Umgekehrt sind wir auf sauberes Wasser und saubere Luft angewiesen, brauchen Sauerstoff und Nahrung. Doch Teil der Natur zu sein, bedeutet mehr, und der Satz gilt auch umgekehrt: Die Natur ist Teil des Menschen. Sie ist Teil jedes Lebewesens. Erst in den letzten Jahren haben die Wissenschaftler gelernt, wie wörtlich diese Aussage zu verstehen ist.
Haben Sie ein Foto von Freunden oder Familienmitgliedern greifbar? Oder vielleicht eine Illustrierte, eine Programmzeitschrift? Was sehen Sie darauf?
Dumme Frage, werden Sie denken, Menschen natürlich. Vermutlich gehören diese Menschen irgendeiner sozialen Gruppe an, einer Familie, einer Peer Group, einem Volk oder einer Ethnie. Es handelt sich jedoch eindeutig um Einzelwesen, um Individuen mit bestimmten Eigenschaften, Kennzeichen und Fähigkeiten, die sie geerbt, gelernt oder auf andere Weise erworben haben.
Aus biologischer Sicht würde man sagen: Es handelt sich um Exemplare der Hominiden-Spezies Mensch (Homo sapiens sapiens). Obwohl wir es ohne technische Hilfsmittel nicht sehen können, wissen wir, dass ihre Körper aus Milliarden winziger Zellen bestehen. Diese Zellen können unterschiedlichste Gestalt annehmen und eine Vielzahl an zum Teil hoch spezialisierten Aufgaben erfüllen, sie sind aber ausnahmslos durch Teilung aus einer einzigen hervorgegangen, der befruchteten Eizelle, und daher genetisch identisch. Nach der Teilung bleiben fast alle Zellen miteinander verbunden und ordnen sich gemäß ihrem genetischen Plan und unter Einfluss der Umwelt zu einem vielzelligen komplexen Ganzen an – dem Wunder Mensch. Alles, was sie zu leisten imstande sind, vom Verdauen der Nahrung bis zur Errichtung gigantischer Bauwerke, alle ihre Merkmale und Eigenschaften schaffen diese Wesen aus sich selbst heraus, im Zusammenspiel ihrer Zellen und in Kooperation mit anderen Einzelwesen ihrer Art.
In ganz ähnlicher Weise würden wir aber auch Tiere beschreiben, einen Hund, ein Pferd oder einen Elefanten, sogar einen Regenwurm oder einen Schmetterling. Auch sie bewerkstelligen alles, was sie können, aus eigener Kraft oder in Zusammenarbeit mit Artgenossen. Das gleiche gilt für Pflanzen (obwohl die Verhältnisse hier komplizierter sind). Kurz: Die Tatsache, dass die meisten Organismen einschließlich des Menschen autarke Einzelwesen sind, ist für uns eine Selbstverständlichkeit – und das gilt nicht nur für wissenschaftliche Laien. Die Existenz biologischer Individuen bildet die Grundlage vieler Fachdisziplinen, von der Genetik über Anatomie und Physiologie bis zur Evolutionsbiologie.
In letzter Zeit mehren sich jedoch die Zeichen, dass diese unsere Sicht auf die belebte Welt und uns selbst falsch oder zumindest in grober Weise unvollständig ist. Ein wesentlicher, ja entscheidender Teil der Realität ist unserer Aufmerksamkeit entgangen. Wie fundamental dieser Fehler war, lässt sich vielleicht erahnen, wenn man sich folgendes Bild vor Augen führt: Ein Außerirdischer beobachtet ein gähnend leeres Stadion, in dem zwei Mannschaften ein leidenschaftlich geführtes Ballspiel austragen. Nach einer Weile begreift er, worum es dabei geht: Das kleine Runde muss ins Eckige. Offenbar folgt das Ganze bestimmten Regeln, und ein schwarz gekleideter Mann mit Trillerpfeife achtet darauf, dass sie eingehalten werden. Warum wird das Spiel aber in einem riesigen Stadium ausgetragen, auf dessen Sitzreihen sich nur eine Handvoll Zuschauer verlieren, und warum abends, im Dunkeln, so dass man es mit großen Scheinwerfern aufwendig beleuchten muss? Wieso tragen die Spieler bunte Schriftzeichen auf der Brust und warum kämpfen sie bis zum Umfallen? Niemand sieht oder hört zu. Was also sollen die vielen Werbetafeln, die sich dauernd verändern, der riesige Bildschirm, auf dem Spielszenen wiederholt werden, die Lautsprecherdurchsagen, das Feuerwerk, die wehenden Fahnen auf den Masten, die Musik, für wen tanzen die jungen Mädchen? Vieles bleibt für den Alien unverständlich, und er sucht nach Erklärungen. Wird das alles veranstaltet, um die Konzentrationsfähigkeit der Spieler auf die Probe zu stellen? Oder damit die, die auf der Ersatzbank sitzen, sich nicht langweilen?
Der Außerirdische weiß nicht, dass die gastgebende Mannschaft zu diesem Geisterspiel verdonnert wurde, weil es beim letzten Heimspiel zu schweren Zuschauerausschreitungen gekommen war. Vor allem ahnt er nicht, dass an diesem Spektakel nicht nur die wenigen Menschen beteiligt sind, die sich im Stadion befinden. Für ihn unsichtbar sitzen Millionen von Zuschauern in Kneipen und Wohnzimmern, um das Spiel zur besten Sendezeit an ihren Fernsehschirmen zu verfolgen. Ihnen gilt der ganze Aufwand. Sie sind die eigentlichen Adressaten. Ohne sie würde dieses Spiel so nicht stattfinden.
Bis vor kurzem befanden sich die Biologen in einer vergleichbaren Situation. Sie sahen die bekannten Akteure auf dem Rasen, die Tiere und Pflanzen, und versuchten, die geltenden Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Sie fanden heraus, dass biologische Individuen in einem komplexen Gewebe ökologischer Wechselwirkungen leben, in einer Welt voller Artgenossen, Fressfeinde, Beutetiere, Nahrungspflanzen, Bestäuber und Parasiten, in der das Klima und die chemische Beschaffenheit von Wasser, Luft und Böden die Rahmenbedingungen setzten. Schon im 17. Jahrhundert entdeckten sie mit Hilfe neuartiger Mikroskope, dass über die sichtbare Welt hinaus ein Mikrokosmos existiert, in dem es von winzigen Lebewesen, von Bakterien, Algen, Pilzen und tierischen Einzellern nur so wimmelt. Anders als die Menschen vor den Fernsehern in unserer Geschichte sind diese Mikroben keine passiven Zuschauer, sondern nehmen höchst aktiv am Lebensgeschehen teil. Die Zahl der Akteure auf dem ökologischen Spielfeld wurde immer größer, und die Regeln ihres Zusammenlebens erwiesen sich als derart komplex, dass sie den Forschern erhebliches Kopfzerbrechen bereiteten.
Heute wissen wir jedoch, dass die meisten Akteure trotz immer besserer mikroskopischer Techniken weiterhin im Verborgenen agierten. Erst in den letzten Jahren beginnen die Wissenschaftler, sich ihrer tatsächlichen Zahl und Bedeutung bewusst zu werden und zu verstehen, wie eng und vielfältig die Verbindungen von Tieren und Pflanzen mit den mikrobiellen Winzlingen wirklich sind. Was die Forscher zutage befördern, ist derart revolutionär, dass die prominente amerikanische Mikrobiologin Margaret McFall-Ngai bei vielen in ungläubiges Staunen verfallenden Biologen eine Art »Zukunftsschock« diagnostizierte. Der Grund: »Zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit.« Den Biologen geht es wie dem Alien, der plötzlich die Kameras entdeckt und erkennt, dass an dem Spektakel im Stadion ein Millionenpublikum teilnimmt. Die neuen Erkenntnisse brächten große Herausforderungen mit sich, betonte jüngst ein internationales Autorenteam namhafter Forscher. Sie seien »ein Aufruf an alle Lebenswissenschaftler, ihre Sicht auf die fundamentale Natur der Biosphäre signifikant zu verändern«.
Als vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren tierisches Leben entstand, hatten Bakterien schon mindestens drei Milliarden Jahre Evolution hinter sich, genug Zeit, um Strategien für die unwirtlichsten Lebensbedingungen zu entwickeln, um vielfältige Formen des Miteinanders auszuprobieren und auf das, was noch kommen sollte, vorbereitet zu sein. Jeder Entwicklungsschritt der vielzelligen Neulinge erfolgte in einer von Bakterien beherrschten Welt, und was immer die Evolution sich für die komplexer werdenden Tiere und Pflanzen ausdachte, Bakterien und andere Mikroben waren dabei: als Nahrung, als Erreger von Krankheiten, aber auch als Partner, Helfer und Impulsgeber. In großer Zahl schlossen sie sich den neuen Wesen an und machten sich im Laufe des folgenden gemeinsamen Evolutionsweges unentbehrlich.
Nimmt man diese Überlegungen und Erkenntnisse ernst – und immer mehr Wissenschaftler tun dies –, dann müssen Genetiker, Evolutionsbiologen, Physiologen, Ökologen, Immunologen, Mediziner und Entwicklungsbiologen umdenken oder besser: noch einmal von vorn denken – und mit ihnen wir alle, ob es uns gefällt oder nicht. Nichts in der Biologie macht mehr Sinn ohne Berücksichtigung der Mikroben, könnte man in Abwandlung eines berühmten Zitates des Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky sagen. Viele Probleme der Lebenswissenschaften müssen neu durchdacht werden, beginnend mit einer einfachen Frage, von der wir glaubten, wir wüssten die Antwort: Was ist das eigentlich, ein Organismus?
Mikroben sind allgegenwärtig, doch lange hat sich die Wissenschaft – aus verständlichen Gründen – vor allem auf ihre Rolle als Krankheitserreger konzentriert. Symbiosen, eine Art Gegenmodell, das nicht für ein feindliches, sondern ein kooperatives Miteinander von Mikroben und anderen Lebewesen steht, galten für die Mehrzahl der Forscher als seltene Ausnahmen, und meist interessierte man sich nur für spektakuläre und ökonomisch wichtige Fälle, etwa für die Knöllchenbakterien einiger Kulturpflanzen, die einzelligen Verdauungshelfer der Kühe oder die Holz zersetzenden Untermieter der Termiten. Heute wissen wir, dass es sich tatsächlich um Ausnahmen handelt, aber nur weil sie vergleichsweise einfach sind, mit wenigen beteiligten Organismenarten. Im Normalfall sind es nicht ein oder zwei, sondern Hunderte, Tausende oder gar, wie im Falle des Menschen, Zehntausende von bislang unbekannten Mikrobenarten, und möglicherweise leisten sie alle in einem dynamischen Miteinander einen kleinen oder großen Beitrag zu dem, was uns als scheinbar autarkes Einzelwesen gegenübertritt. Diesen Beitrag zu entschlüsseln, wird eine der großen Herausforderungen der Biowissenschaften für die kommenden Jahrzehnte sein. Die Forscher sehen sich mit schwindelerregend komplexen Wechselwirkungen konfrontiert, und die Ausnahmen der Vergangenheit werden unversehens zu Modellsystemen, die Entscheidendes zum Verständnis der Zusammenhänge beitragen können.
Welchen Einfluss haben diese Winzlinge auf die Entwicklungswege der Lebewesen genommen, die nach ihnen entstanden, und welchen Einfluss üben sie noch heute aus? Unglaublich, aber wahr: Ein Drittel der in unserem Blut zirkulierenden Stoffwechselverbindungen ist nicht-menschlichen Ursprungs. Sie stammen zum großen Teil von Körperbakterien, vor allem aus dem Darm, die ihren chemischen Einfluss auf diese Weise bis hin zu weit entfernten Organen ausdehnen, bis in die Schaltzentrale, ins Gehirn. Was bewirken diese Stoffe? Welche Informationen werden hier übermittelt, und wer ist ihr Adressat?
Eines dürfte schon jetzt klar sein: Kein Lebewesen ist mit sich allein. Für jede seiner Lebensäußerungen, jede seiner Eigenschaften und Fähigkeiten muss in Zukunft auch die Frage nach den Mikroben gestellt werden. Was hinter dem von der modernen Forschung gelüfteten Vorhang sichtbar wird, ist nichts Geringeres als ein atemberaubend neues Bild von der Welt, in der wir leben. Es sieht anders aus, als wir gedacht haben. Biologische Individuen existieren nicht und haben nie existiert. Irdische Lebewesen sind in einer Weise miteinander verknüpft und verbunden, von der wir bis vor kurzem kaum eine Vorstellung hatten. Vielleicht kommt diese Erkenntnis angesichts der enormen Herausforderungen der Zukunft gerade recht, um uns Menschen den Platz im Lebensgeschehen zuzuweisen, der uns zusteht.
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