Einleitung
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Schmelzende Gletscher und Polkappen, steigender Meeresspiegel, Hitzewellen und andere Extremwetterlagen, Dürren, ein Mittelmeerraum, der zur Wüste tendiert, verheerende Waldbrände, Ökosysteme, die sich drastisch verändern … Sie kennen das alles. Niemand, wirklich niemand wird in 10, 20 oder 50 Jahren behaupten können, sie oder er habe nicht gewusst, was uns blühen würde. Und doch lehnen viele Menschen Klimaschutz-maßnahmen, die sie selbst betreffen würden, ab und bestehen auf grenzenloser Freiheit im Hier und Jetzt.
Immerhin gibt es einen seit Jahren bekannten Lichtblick, der im Trommelfeuer der finsteren Nachrichten über neue Klimaextreme und im immer erbitterter geführten Streit über mögliche Gegenmaßnahmen beinahe untergegangen ist: Wenn wir es schaffen, die CO2-Emissionen auf null zu reduzieren, werden die Temperaturen nach einer Übergangszeit von wenigen Jahren nicht mehr weiter steigen. Für die prominente, in Oxford arbeitende Klimaforscherin Friederike Otto ist das „eine der wichtigsten Erkenntnisse der Klimatologie der vergangenen Jahre“, denn bisher war man davon ausgegangen, dass es nach einem Emissionsstopp noch jahrzehntelang wärmer werden würde.
Das sollte uns Mut machen. Die immensen Anstrengungen, die nötig sind, um den Ausstoß von Treibhausgasen global zu reduzieren, würden sich lohnen und brächten im Erfolgsfall ei-nen beinahe unmittelbaren Ertrag. Pflanzen und die von ihnen praktizierte Photosynthese könnten auf diesem Weg von großem Nutzen sein.
Doch um das Horrorszenario einer um 3 oder sogar mehr Grad aufgeheizten Welt abzuwenden, reicht das nicht aus. Auch in Zukunft wird es noch Emissionen geben, die aus heutiger Sicht unvermeidlich sind und kompensiert werden müssen, zum Beispiel im Bereich der Landwirtschaft, der Zementindustrie und bei der Müllverbrennung. „Optimistischen“ Schätzungen zufolge könnten diese Rest-Emissionen 10 bis 20 Prozent der heutigen Emissionen ausmachen, global gesehen wären das mehrere Milliarden Tonnen. Zusätzlich müsste bereits emittiertes CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernt werden, und das in beträchtlichen Mengen. So wird in den Szenarien des IPCC zum 1,5‑Grad-Ziel von einer Kohlendioxidentnahme in Höhe von 740 Gigatonnen bis zum Jahr 2100 ausgegangen, etwa dem Zwanzigfachen der momentan jährlich weltweit emittierten CO2-Menge. Wohlgemerkt: Diese Zahlen sind bereits in die Berechnungen eingeflossen. Erreicht die Weltgemeinschaft dieses Ziel nicht, wird es noch schwerer werden, die gemeinsam beschlos-senen Vorgaben einzuhalten.
Wie soll das gehen? Es ist in jedem Fall eine Herkulesaufgabe, die unsere Gesellschaften vor gigantische Herausforderun-gen stellen und Unmengen an Geld erfordern wird. Elon Musk, der Google-Mutterkonzern Alphabet und andere haben Start-ups, die Technologien zur CO2-Rückholung entwickeln, bereits zwei Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt. Frontier, ein 925 Millionen Dollar Fonds, den unter anderem McKinsey & Co, Meta, Alphabet und Shopify aufgelegt haben, soll Firmen dafür bezahlen, dass sie Kohlendioxid aus der Atmosphäre ent-fernen. Auch die US-Regierung ist mit viel Geld eingestiegen. In der Branche herrscht Goldgräberstimmung.
Mit dem „XPRIZE Carbon Removal“, der mit insgesamt 100 Millionen US-Dollar lockt, haben Elon Musk und seine Stiftung 2021 zudem den höchstdotierten Anreizwettbewerb ins Leben gerufen, den es je gab. Die Teams, die sich bewerben, müssen eine CO2-Entfernung in der Größenordnung von 1000 Tonnen pro Jahr nachweisen, sie müssen die Kosten modellieren, die bei einer Kohlendioxidentfernung von einer Million Tonnen pro Jahr anfallen würden, und einen Plan vorlegen, wie sie in Zukunft nachhaltig in den Bereich von Gigatonnen pro Jahr vorstoßen wollen. An 15 der über 1300 Bewerber aus 88 Ländern sind schon je 1 000 000 US-Dollar ausgeschüttet worden. Kurz vor Abschluss dieses Buches sind die 20 Finalisten bekannt ge-geben worden. Von einigen Konzepten dieser Teams und Start-ups wird auch auf den folgenden Seiten die Rede sein. Die Gewinner des mit 50 Millionen US-Dollar dotierten Hauptpreises werden Ende 2025 verkündet.
Es geht ja nicht nur darum, den Temperaturanstieg bis Ende des Jahrhunderts zu begrenzen. Die Temperaturen würden nach einem Emissionsstopp – von dem wir, um das noch einmal klar zu sagen, weit entfernt sind – zwar nicht weiter steigen, sie würden aber auch nicht sinken; und je länger der Ausstieg auf sich warten lässt, desto höher liegt das Temperaturniveau, mit dem sich alle Lebewesen der Erde arrangieren müssen. Wenn wir nicht wollen, dass diese für die Menschheit und große Teile der Biosphäre gefährlichen Bedingungen über lange Zeit andauern, muss es unser Bestreben sein, den CO2-Gehalt der Atmosphäre wieder zu reduzieren, möglichst auf das Niveau der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder darunter. Wir müssen versuchen, das Fieber der Welt zu senken, auch wenn das Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern sollte.
Das Zauberwort heißt Carbon Capture and Storage – Technologien, die CO2 auf unterschiedliche Weise der Atmosphäre entziehen und klimaneutral deponieren. Mit den kohlendioxidreichen Abgasen aus Industrieschornsteinen klappt das schon ganz gut, aber in der Atmosphäre ist CO2, in krassem Gegensatz zu seiner Bedeutung für das Weltklima, ein Spurengas, das nicht einmal 0,1 Volumenprozent der Luftgase ausmacht. Es in großen Mengen aus der Luft zu gewinnen, kostet daher viel Energie.
Dass es trotzdem gelingen kann, zeigt zum Beispiel das Schweizer Unternehmen Climeworks der beiden deutschen Ingenieure Jan Wurzbacher und Christoph Gebald, das im Frühjahr 2022 eine Kapitalspritze von 650 Millionen US-Dollar erhalten hat, unter anderem von einer großen Schweizer Versicherungsgruppe und dem Investor Baillie Gifford, der sein Geld früher in Tesla und Amazon anlegte.
Climeworks nennt seine Methode Direct Air Capture (DAC): Riesige Ventilatoren saugen Luft an, schicken sie durch Spezialfilter, setzen das daran gebundene CO2 durch Erhitzen wieder frei und pumpen es dann zusammen mit Wasser in den Untergrund, wo es mit den im Basaltgestein enthaltenen Salzen reagiert, buchstäblich versteinert und für Tausende von Jahren verbleibt.
Nach einer Pilotanlage in der Schweiz arbeitet nun seit 2021 in Hellisheiði, Island, eine erste Großanlage namens „Orca“, die der Atmosphäre bei vollem Betrieb jährlich 4000 Tonnen CO2 entzieht. Für das Verpressen in den Untergrund sorgt, unter futuristisch anmutenden Kuppeln, der Climeworks-Nachbar CarbFix, ein Tochterunternehmen des isländischen Energieversorgers Orkuveita Reykjavíkur.
4000 Tonnen CO2, das entspricht den jährlichen Emissionen, die 250 US-Bürger verursachen – nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein also. Doch in Sichtweite von „Orca“ entsteht bereits „Mammoth“, eine wesentlich größere Anlage, die der Luft jährlich 36 000 Tonnen CO2 entziehen wird. Und dieses „Up-Scaling“ soll weitergehen. Bis zum Jahr 2030 will Climeworks die Megatonnen‑, bis 2050 eine Gigatonnenkapazität erreicht haben. Spätestens dann wäre die Vision der Assimilatoren aus »Wenzels Pilz« in Gestalt von riesigen, überall auf der Welt errichteten DAC-Maschinen Wirklichkeit geworden. Fehlen nur noch die Algen, aber auch die werden in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Wir werden darauf zurückkommen (Kap. 6).
Es gibt andere Konzepte als das von Climeworks und CarbFix, mit anderer Methodik, aber dem gleichen Ziel, und eine Forschergruppe um Ryan Hanna von der University of California in San Diego hat nachgerechnet: Das Ganze ist zwar Zukunftsmusik, aber kein Hirngespinst. Bis zum Ende des Jahrhunderts wäre es tatsächlich möglich, auf diese Weise um die 840 Gigatonnen Kohlendioxid pro Jahr aus der Atmosphäre zu entfernen. Die Kosten wären allerdings enorm, denn wir würden viele dieser Anlagen benötigen, zigtausende. Das würde jährliche Investitionen von 1,2 bis 1,9 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts erfordern, insgesamt einen Betrag von bis zu 1,38 Billionen US-Dollar. Unklar ist zudem, woher die Energie für alle diese Anlagen kommen soll. Nicht überall stehen in der Nähe emissionsfreie Geothermiekraftwerke zur Verfügung wie auf Island.
Technische Lösungen der Kohlendioxidentnahme wie die von Climeworks müssen in unserem Zusammenhang natürlich erwähnt werden, aber sie sind nicht Thema dieses Buches.
Ich möchte einen anderen Weg erkunden. Man könnte ihn den „sanften“ oder „grünen Weg“ nennen oder den „biologischen“; es ist ein Weg, der sich auf die Fähigkeiten ausgewiesener Experten der Kohlenstofffixierung stützt – die der Pflanzen. Was die Nutzbarmachung atmosphärischen Kohlendioxids angeht, haben sie einen unerreichbar weiten Erfahrungshorizont aufzuweisen. Zu ihrer Expertise gehört, dass sie die auf diesem Planeten herrschenden Bedingungen vor langer Zeit mehrfach völlig umgekrempelt haben und dass sie seit Hunderten von Millionen Jahren zuverlässig, still, effektiv und erfolgreich ein der Luft entnommenes Kohlenstoffatom an das andere hängen und dabei auch noch Sauerstoff produzieren, das Gas, das für uns überlebenswichtig ist. Sie tun das, um selbst zu wachsen, und schaffen so, gewissermaßen nebenbei, die Existenzgrundlage für Millionen von Tierarten einschließlich des Menschen.
Jeder großtechnischen Lösung haben Pflanzen gleich mehreres voraus, von Ressourcen- und Energieverbrauch sowie ästhetischen Fragen gar nicht zu reden: Indem sie Schatten spenden und kühlend wirken, können Pflanzen uns dabei unterstützen, mit den schon jetzt unvermeidlichen Folgen des Klimawandels fertigzuwerden, vor allem in Städten. Ihre Biomasse sorgt für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion, und mit den daraus zu gewinnenden Gasen leisten sie einen Beitrag zur klimaneutralen Energieversorgung, dessen Potenzial wir noch bei Weitem nicht ausgeschöpft haben. Gleichzeitig sind sie entscheidend für die Bewältigung der zweiten großen Zukunftskrise, in der wir uns längst befinden: dem Sterben der Tiere, der Defaunation und dem Schwinden der biologischen Vielfalt. Manche sagen, diese Krise werde uns noch härter treffen.
Welchen Beitrag können Pflanzen für die Lösung unserer Zukunftsprobleme leisten? Dieser Frage will ich auf den folgenden Seiten nachgehen, und vielleicht wird es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dabei am Ende genauso gehen wie mir: Sie werden überrascht sein über die Vielfalt an Ideen und Ansätzen, die dabei angedacht oder bereits verfolgt werden. …