Es waren ohnehin nur wenige, die sich für das Geschehen draußen interessierten. Unter Palmen hatten sich die elegant gekleideten Gäste zu kleinen Gruppen zusammengefunden, saßen plaudernd und lachend in Korbmöbeln oder standen unter Sonnenschirmen an hohen Tischen. Ober im Frack trugen Tabletts mit Getränken umher, an aufwendig dekorierten Kiosken wurden Cocktails gemixt, Espressi bereitet und kubanische Zigarren angeboten. Die Gäste hielten Gläser mit Sekt oder Wein in der Hand und griffen nach den Zigaretten, die von jungen Mädchen in grauen Hosenanzügen verteilt wurden. Lippen bewegten sich im Gespräch, verzogen sich zu einem Lächeln, signalisierten Interesse oder Erstaunen. Augen wanderten unruhig umher, damit ihnen kein bekanntes Gesicht entging. Sie registrierten jeden der noch orientierungslos herumirrenden Neuankömmlinge, wiesen sich gegenseitig mit einem Kopfnicken auf den neuen Begleiter von Frau X hin, auf die vollbusige Blondine an der Seite von Herrn Y oder die extravagante Kopfbedeckung einer großen Afrikanerin, was sie alles in allem derart in Anspruch nahm, dass kaum mehr als belangloser Small talk zu vernehmen war.
Das Klirren der Gläser, das Klappern von Schüsseln und Besteck, all die Gespräche, das Lachen, das Plätschern der Springbrunnen formten in der weitläufigen Halle eine komplexe Klangwolke, fast ein Dröhnen, das mit jedem eintreffenden Gast lauter zu werden schien, darunter gemischt die rhythmischen Akzente kubanischer Musik, ein langsamer entspannter Groove, und über allem ein bläuliches Licht, das von Dutzenden von Lampen ausging, die sich unterhalb des Schwimmbeckenrandes befanden.
Es war einer dieser gesellschaftlichen Anlässe, bei denen man hinter jedem Gesicht eine bedeutende Persönlichkeit vermutet, und an diesem Abend und an diesem Ort lag man damit goldrichtig. Es war unwahrscheinlich, hier auf Menschen zu treffen, die weder geistig oder körperlich noch gesellschaftlich Herausragendes zu bieten hatten. Man konnte im Gedränge über die langen Beine einer bekannten Nachrichtensprecherin stolpern, die in Wirklichkeit viel attraktiver war als auf der heimischen Mattscheibe, oder am Handtuchspender vor dem Toilettenspiegel unvermittelt mit dem Wirtschaftsminister konkurrieren, dem man schon lange einmal sagen wollte, wie unsinnig man seine Politik fand.
In der Halle wimmelte es von Direktoren und Senatoren, von Welt- und Europameistern, von Vorsitzenden und Präsidenten, Managern und Agenten. Es gab die Chefredakteurin einer bedeutenden Frauenzeitschrift genauso wie die Umweltministerin des Bundes, diverse Verleger, Journalisten, Schauspieler und Autoren, eine Primaballerina, eine Koloratursopranistin und zwei Operntenöre, eine Pornodarstellerin, den frischgebackenen WBO-Champion im Schwergewicht, ein knappes Dutzend Models, die komplette Mannschaft der Hamburg Ice Titans mit ihren Ehefrauen und Cheerleadern, eine Gruppe von ungewöhnlich großen jungen Frauen und Männern, die die Basketballteams der Silver Baskets bildeten, sowie die vollständige Führungsriege der Hamburger Senft AG nebst Anhang. An allen strategisch wichtigen Punkten der Halle und ihres Eingangsbereichs hatten Sicherheitsleute Position bezogen, kräftige Männer mit unbeweglichen Gesichtern und Knöpfen im Ohr. Die Hände vor dem Bauch verschränkt, ließen sie ihre Blicke unablässig über die Menge schweifen. In der erst vor wenigen Tagen eröffneten Schwimmhalle am Elbufer fand das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Jahres statt. Kleider, Schmuck und Uhren der Anwesenden waren ein Vermögen wert, von dem Wagenpark, der draußen die Freifläche vor dem Halleneingang füllte, ganz zu schweigen. Knapp vierhundert Gäste waren geladen, mit größter Sorgfalt ausgewählt. Die Sicherheitsvorkehrungen konnten sich mit denen eines Staatsbesuches messen.
Die Medien waren durch ihre Intendanten und Chefredakteure vertreten. Reporter aller wichtigen Zeitungen hielten Augen und Ohren offen, Fotografen ließen Blitze durch die Halle zucken, an der Schmalseite des 50-Meter-Beckens und auf den Tribünen, die für die Gäste nicht zugänglich waren, standen sechs Fernsehkameras, eine hing direkt über der Beckenmitte von der Decke. Im Verlauf des Abends plante ein Privatsender mehrere Live-Schaltungen. Ein mobiles Team hatte sich unter die Leute gemischt und hielt jedem bekannten Gesicht ein Mikrofon vor die Nase. Natürlich kursierten die wildesten Gerüchte, was an diesem Abend noch geschehen würde. Niemand schien Genaues zu wissen, aber kaum einer zweifelte daran, dass ED Senft irgendeine Überraschung vorbereitet hatte.
Seinen Fünfzigsten hatte er im nagelneuen, von ihm gestifteten Raubtierhaus des Tierparks Hagenbeck gefeiert. Damals vor l0 Jahren hatten Mitte April schon sommerliche Temperaturen geherrscht, und die Hauptattraktion dieses inzwischen legendären Abends bestand in einem gewagten Drahtseilakt.
Eine Artistenfamilie, bestehend aus Vater, Tochter und Sohn, marschierte mit verbundenen Augen in zehn Metern Höhe über die neue großzügige Freianlage, in der sich fünf Löwinnen, etliche ausgelassene Halbwüchsige und ein mächtiger Löwe aufhielten.
Bisher war ED nicht aufgetaucht, nur seine bildhübsche Tochter Tanja Maria hatte sich mit ihrem Mann, einem bekannten Berliner Onkologen, und ihrer kleinen Tochter unter die Gäste gemischt und sonnte sich unter den Blicken ihrer Bewunderer.
An einem der Stehtische in der Nähe des Beckenrandes hatten sich einige Sportler zusammengefunden. Ein schwarzhaariger Hüne kniete gerade neben dem Becken, wedelte mit der Hand im Wasser herum, roch dann an seinen Fingern und steckte sie in den Mund.
»Habt ihr das Wasser mal gekostet? Es ist salzig«, sagte er, als er wieder am Tisch stand. »Ist doch merkwürdig, oder? Ich meine, seit wann gibt es in Hallenbädern Salzwasser?«
»Steckst du überall deine Finger rein und kostest?« fragte eine der Basketballerinnen. »Vielleicht ist das gar keine Schwimmhalle. Ich verrat euch was: In Wirklichkeit befinden wir uns in der neuen Freianlage für Hammerhaie. Sie warten schon hinter verborgenen Stahlgittern, um endlich hineinzukönnen.«
»Und während sie im Becken hungrig ihre Kreise ziehen«, mutmaßte jemand, »versucht Rebecca Scholz darin nackt einen neuen Weltrekord über 400 Meter Brust zu schwimmen.«
»Also, ich als Hai wäre eher scharf auf ihren Hintern«, antwortete ein anderer und löste heftiges Gelächter aus. »Ich bin eindeutig für Rückenschwimmen. Außerdem hätten wir hier oben dann auch was davon.«
Dass Rebecca Scholz an diesem Abend beteiligt sein könnte, war eine häufig geäußerte Vermutung. Vielleicht, weil Sepp Baubichler, ihr feister Agent, gesichtet wurde, wenn nicht fressend, dann selbstgefällig grinsend und wie immer auf der Pirsch nach frischem Sportlerinnenfleisch, das er vermarkten konnte.
Ein breitschultriger junger Mann warf sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund und wies kauend auf ein schwarz verhangenes Stahlgerüst an der Ecke des Beckens. »Und was glaubt ihr, wozu das gut sein soll?« Er hatte einen starken amerikanischen Akzent.
»Das ist ein Haikäfig.«
»Gleich vier, einer an jeder Ecke?«
»Klar. Sicher ist sicher. Der ist nämlich für die Haie, um sie vor Rebecca zu schützen.«
»Hey«, kreischte plötzlich eine exaltierte Frauenstimme. »Da ist ja die komplette erste Sturmreihe der Ice Titans versammelt.«
Das Lachen der Gruppe hatte das Fernsehteam angelockt. Eine kleine Frau drängte sich zwischen die Sportler und hielt dem Amerikaner ein Mikrofon hin. Hinter ihr folgte ein Mann mit einer Videokamera auf der Schulter, ein Dritter trug Kopfhörer und ein Aufnahmegerät, dahinter ein Pulk von Neugierigen.
»Hier haben wir Brad Huxley«, sagte die Reporterin in die Kamera, »den kanadischen Sturmstar der Titans und Torschützenkönig der letzten Saison. Sie scheinen sich ja bestens zu amüsieren, Brad.«
»Was denn sonst. Ein toller Abend.«
»Was glauben Sie, was ED Senft für heute geplant hat?«
»Keine Ahnung! Meine Nachbarin hier…«, er legte der einen halben Kopf größeren Basketballerin eine Hand auf die Schulter, »also sie vermutet, ED würde einen Schwarm Hammerheads ins Becken lassen. Äh, wie sagt man auf deutsch, Hammerhaie?«
»Hammerhaie? Um Gottes willen.« Die Reporterin strahlte in die Kamera. »Sie sehen, liebe Zuschauer, man hält hier so ziemlich alles für möglich. Aber Hammerhaie…, das würden Sie ihm zutrauen?«
»Why not? Sind doch bloß Fische.«
Die Reporterin nickte begeistert, legte dann eine Hand ans Ohr und blickte in die Kamera.
»Oh, ich höre gerade, dass die Show jeden Moment beginnen wird. Ich gebe zu Steffen Kramer draußen im Foyer, der interessante Gesprächspartner am Mikrofon hat. Steffen, wie sieht’s bei dir aus? Hier drinnen ist die Stimmung einfach super.«
Das rote Lämpchen an der Videokamera erlosch. Die Reporterin ließ das Mikrofon sinken, ihr Dauerlächeln schmolz dahin. »Ihr seid vollkommen verrückt, Jungs«, sagte sie kopfschüttelnd und griff nach einem Glas Wasser.
Dann erlosch das Licht.
…
© Bernhard Kegel